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Wenn wir beständig im Abstrakten leben, sei es in abstrakten Gedanken, sei es in gedachten Empfindungen, werden uns bald, ohne daß wir dies wollten oder empfänden, all jene Dinge des wirklichen Lebens zu Trugbildern, selbst jene, die wir, im Einklang mit uns, besonders intensiv empfinden müßten.

So eng und aufrichtig ich auch mit jemandem befreundet bin, erfahre ich, daß er krank oder gestorben ist, beeindruckt mich dies nur milde, mäßig, ja, schwach, und ich schäme mich. Einzig ein unmittelbarer Einblick in die Angelegenheit, ein direkter Kontakt könnte meine Gefühle bewegen. Wenn man beständig in der Vorstellung lebt, ermüdet die Vorstellungskraft, insbesondere, was die Wirklichkeit angeht. Wer im Geist mit dem lebt, was nicht ist noch sein kann, ist am Ende außerstande, sich vorzustellen, was alles sein könnte.

Heute erfuhr ich, ein alter Freund, den ich seit langem nicht mehr gesehen habe, an den ich aber offen gestanden immer, wie ich meine, sehnsüchtig denke, sei ins Krankenhaus gekommen, um sich einer Operation zu unterziehen. Das einzige, was ich bei dieser Nachricht klar und deutlich empfand, war der Ärger, daß ich ihn wohl oder übel würde besuchen müssen, samt der ironischen Alternative, dies zu unterlassen und mich schuldig zu fühlen. Das war alles … Durch meinen häufigen Umgang mit Schatten bin ich selbst zu einem Schatten geworden, einem Schatten all dessen, was ich denke, fühle, bin. Die Sehnsucht nach dem normalen Menschen, der ich niemals war, hat mich bis in die Substanz meines Seins durchdrungen. Dies, und nur dies, empfinde ich. Ich bedauere den Freund, der operiert wird, nicht wirklich. Auch all die anderen nicht, die dies vor sich haben oder an Leib und Seele leiden in dieser Welt. Ich bedauere lediglich, daß ich nicht jemand bin, der Bedauern empfinden kann.

Und von einem Augenblick zum anderen denke ich unweigerlich an etwas anderes – welchem Impuls folgend, weiß ich nicht. Und wie im Delirium vermischt sich, was ich nicht habe fühlen und nicht habe sein können, mit einem Rauschen von Bäumen, einem Plätschern von Wasser in Becken, einem inexistenten Landgut … Ich bemühe mich zu fühlen, aber weiß schon nicht mehr, wie man fühlt. Ich bin zum Schatten meiner selbst geworden, einem Schatten, dem ich mein Sein ausgeliefert habe. Anders als jener Peter Schlemihl aus der deutschen Erzählung[73]   habe ich dem Teufel nicht meinen Schatten, sondern meine Substanz verkauft. Ich leide, daß ich nicht leide, nicht leiden kann. Lebe ich, oder gebe ich vor zu leben? Schlafe ich, oder bin ich wach? Ein leichter Lufthauch, ein frisches Wehen aus der Hitze des Tages läßt mich alles vergessen. Meine Lider sind angenehm schwer … Mir ist, als vergoldete diese Sonne jene Gefilde, in denen ich nicht bin und auch nicht sein möchte … Von den Stimmen der Stadt geht eine große Stille aus … Wie sanft sie ist! Doch wieviel sanfter wäre sie, vielleicht, könnte ich nur fühlen! …

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Selbst das Schreiben hat für mich seinen Reiz verloren. Emotionen Ausdruck zu verleihen und Sätzen den rechten Schliff ist etwas so Banales geworden wie Essen oder Trinken, dem ich mehr oder weniger interessiert nachgehe, doch stets etwas zerstreut und ohne rechte Begeisterung, geschweige denn Feuer.

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Reden heißt anderen zu viel Aufmerksamkeit schenken. Fische sterben, wenn sie den Mund aufmachen … so auch Oscar Wilde.

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Sobald wir vermögen, diese Welt als Illusion und Trugbild zu betrachten, können wir alles, was uns widerfährt, als Traum betrachten, als etwas, das vorgab zu sein, weil wir schliefen. Dann werden wir scharfsinnig und zutiefst gleichgültig gegen alle Unbill und alles Unglück des Lebens. Dann sind jene, die starben, um die Ecke gebogen, und deshalb sehen wir sie nicht mehr; dann gehen jene, die leiden, an uns vorüber wie ein Alptraum, wenn wir fühlen, oder wie ein unangenehmer Tagtraum, wenn wir denken. Und unser eigenes Leid wird nicht mehr sein als dieses Nichts. In dieser Welt schlafen wir auf unserer linken Seite und hören bis tief in unsere Träume die unterdrückte Existenz unseres Herzens.

Nichts weiter … Ein wenig Sonne, eine leichte Brise, ein paar Bäume als Rahmen für die Weite, der Wunsch, glücklich zu sein, der Kummer, daß die Tage vergehen, die Wissenschaft immer ungewiß und die Wahrheit immer zu entdecken bleibt … das ist alles, nichts weiter … Ja, nichts weiter …

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Das Erlösende des mystischen Zustands erleben, ohne seine Forderungen zu erfüllen; der ekstatische Jünger keines Gottes sein, Mystiker oder Epopt[74]   ohne Initiation; die Tage mit Meditationen über ein Paradies verbringen, an das man nicht glaubt – all das erfreut eine Seele, die weiß, was Nicht-Wissen ist.

Hoch über mir, einem Körper in einem Schatten, ziehen stille Wolken vorüber; hoch über mir, einer Seele, gefangen in einem Körper, ziehen unbekannte Wahrheiten vorüber … Alles zieht hoch oben vorüber … Alles zieht oben wie unten vorüber, und keine Wolke, die mehr zurückläßt als Regen, und keine Wahrheit, die mehr zurückläßt als Schmerz … Ja, alles Hohe zieht hoch oben vorüber und vergeht; alles Begehrenswerte ist fern und zieht fern vorüber … Ja, alles verlockt, alles bleibt fremd, alles vergeht.

Was kümmert’s mich zu wissen, daß auch ich, in Sonne oder Regen, als Körper oder Seele, vergehen werde? Es ist ohne Bedeutung, bis auf die Hoffnung, daß alles nichts ist und nichts daher alles.

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Jeder gesunde Geist glaubt an Gott. Kein gesunder Geist glaubt an einen klar bestimmten Gott. Ein zugleich existentes und unmögliches Wesen lenkt alles, dessen Person, falls es sie denn hat, niemand bestimmen kann; dessen Absichten, falls es solche hat, niemand ergründen kann. Indem wir dieses Wesen Gott nennen, sagen wir alles, da wir mit dem Wort Gott, das keinen genauen Sinn hat, Gott bestätigen, ohne etwas zu besagen. Die Attribute unendlich, ewig, allmächtig, allgerecht oder allgütig, die wir ihm zuweilen beifügen, entfallen, wie alle unnötigen Adjektive, von allein, sofern das Substantiv ausreicht. Und Er, der, da Er unbestimmt ist, keine Attribute haben kann, ist aus eben diesem Grund das absolute Nomen.

Und die gleiche Gewißheit und die gleiche Unbestimmtheit haften dem Überleben der Seele an. Wir alle wissen, daß wir sterben; wir alle fühlen, daß wir nicht sterben werden. Nicht eigentlich ein Wunsch oder eine Hoffnung weckt in uns die dunkle Ahnung, daß der Tod ein Mißverständnis ist, sondern vielmehr eine in unserem Innersten angestellte Überlegung, eine Weigerung […]

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Ein Tag

Statt zu Mittag zu essen – eine Notwendigkeit, der ich mich tagtäglich aussetzen muß –, bin ich an den Tejo gegangen, als ich aber zurück durch die Straßen schlenderte, bildete ich mir nicht einmal ein, daß sein Anblick für meine Seele von Nutzen gewesen wäre. Doch auch so …

Leben lohnt nicht. Nur Sehen. Sehen können, ohne zu leben, das wäre das Glück!, doch ist es unmöglich, wie eigentlich alles, was wir träumen. Die Ekstase, die das Leben nicht bräuchte! …