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Das Glück all jener Menschen, die nicht wissen, daß sie unglücklich sind, verärgert mich. Ihr Leben ist für einen wirklich Sensiblen eine Abfolge quälender Ängste. Da aber ihr wahres Leben rein vegetativ ist, geht das Leid durch sie hindurch, ohne ihre Seele zu berühren, und sie leben ein Leben, vergleichbar nur dem eines Menschen, bei dem sich zusammen mit dem Zahnschmerz das Glück einstellt: das unverfälschte Glück zu leben, ohne sich dessen bewußt zu sein, das größte uns von den Göttern gewährte Geschenk, denn es macht uns ihnen gleich und erhaben (wenn auch auf andere Art) über Freude und Schmerz.

Und so liebe ich sie alle trotz alledem, meine geliebten vegetativen Geschöpfe!

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Ich wünschte mir, ich könnte für die Höherstehenden der modernen Gesellschaften ein Gesetz zur Untätigkeit erlassen.

Die Gesellschaft würde sich spontan und selbst regieren, gäbe es in ihr keine sensiblen und intelligenten Menschen. Glauben Sie mir, das einzig gereicht ihr zum Nachteil. Die primitiven Gesellschaften waren glücklich, weil sie mehr oder minder auf diesem Modell beruhten.

Bedauerlicherweise jedoch hätte der Ausschluß der Höherstehenden aus der Gesellschaft ihren Tod zur Folge, da sie nicht wissen, wie man arbeitet. Womöglich würden sie auch vor Langeweile sterben, da bei ihnen für die Dummheit kein Platz ist. Aber mir geht es hier um das menschliche Glück im allgemeinen.

Jeder Höhergestellte, der sich als solcher in der Gesellschaft zu erkennen gäbe, würde auf die Insel der Höherstehenden verbannt. Die Höherstehenden würden von der Durchschnittsgesellschaft wie Tiere im Käfig ernährt.

Glauben Sie mir: Gäbe es nicht intelligente Menschen, die auf die Übel hinwiesen, an denen die Menschheit leidet, sie würde sie nicht bemerken. Und Sensible, die leiden, machen andere leiden: aus Mitleid.

Da wir in ein und derselben Gesellschaft leben, haben die Höherstehenden einstweilen nur eine einzige Pflicht, nämlich ihre Beteiligung am Stammesleben auf ein Mindestmaß zu beschränken. Sie sollten keine Zeitungen lesen, allenfalls um zu erfahren, wieviel Unwichtiges und Uninteressantes doch passiert. Niemand vermag sich vorzustellen, welchen Hochgenuß ich den Kurznachrichten aus der Provinz abgewinne. Allein die Namen öffnen mir Türen in die Leere.

Es gibt nichts Erhabeneres und Ehrenvolleres für einen höherstehenden Menschen, als nicht zu wissen, wer Staatsoberhaupt seines Landes ist oder ob er in einer Monarchie oder einer Republik lebt.

Sein ganzes Trachten sollte darauf zielen, seine Seele derart zu formen, daß nichts von dem, was kommt und geschieht, ihm etwas anhaben kann. Andernfalls wird er sich anderen zuwenden müssen, um sich mit sich selbst befassen zu können.

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Zeit vergeuden hat etwas Ästhetisches. Für all jene, die Empfindungen kultivieren, gibt es ein Handbuch der Trägheit mit Anleitungen zu Luziditäten aller Art. Die Strategie, um gegen die Idee gesellschaftlicher Zweckmäßigkeiten anzugehen, gegen die Impulse unserer Instinkte und die Forderungen des Gefühls, bedarf eines Studiums, zu dem nicht jeder Ästhet ohne weiteres in der Lage ist. Einer rigorosen Ätiologie unserer Skrupel muß eine ironische Diagnose unserer Zugeständnisse an die Normalität folgen. Zudem müssen wir lernen, uns vor den Anfechtungen des Lebens zu schützen. Ein vorsichtiges […] ist geboten, um unsere Empfänglichkeit gegen fremde Meinungen zu wappnen, desgleichen eine samtweiche Gleichmut, um unsere Seele gegen die dumpfen Schläge unserer Koexistenz mit anderen zu polstern.

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Mittels eines ästhetischen Quietismus des Lebens erreichen, daß Beleidigungen und Demütigungen, die das Leben und die Lebenden uns zufügen, nicht weiter als bis zur verächtlichen Peripherie der Sensibilität gelangen, zum fernen Äußeren der bewußten Seele.

Wir alle haben eine verachtenswerte Seite. Jeder von uns trägt ein Verbrechen in sich – ein schon begangenes oder eines, das seine Seele ihm abverlangt.

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Ich frage mich beständig und versuche zu verstehen, wie andere Menschen existieren, wie es Seelen geben kann, die anders als die meine sind, wie es ein Bewußtsein geben kann, das dem meinen fremd ist, das, weil es Bewußtsein ist, mir das einzige Bewußtsein zu sein scheint. Ich verstehe wohl, daß der Mensch, der vor mir steht und zu mir in Worten spricht, als seien es die meinen, und gestikuliert, wie ich oder wie ich es tun könnte, in gewisser Weise meinesgleichen ist. Ebenso aber ergeht es mir mit Bildgestalten, die ich mir vorstelle, mit Romanfiguren und Personen, die durch Schauspieler verkörpert in einem Drama auf der Bühne zu mir sprechen.

Niemand, vermute ich, gesteht einem anderen Menschen wirklich wahre Existenz zu. Er mag einräumen, daß dieser Mensch lebendig ist, daß er fühlt und denkt wie er, aber es wird da immer ein namenloses Etwas des Unterschieds, eine materialisierte Benachteiligung bestehen. Es gibt Gestalten aus der Vergangenheit, geistige Bilder aus Büchern, die wirklicher für uns sind als diese verkörperte Gleichgültigkeit, die mit uns über den Ladentisch hinweg spricht, uns zufällig in der Elektrischen ansieht oder als Passant im toten Zufall der Straßen streift. Die anderen sind für mich nicht mehr als Kulisse, meist die unsichtbare einer bekannten Straße.

So manch literarische Gestalt, so manch bildliche Darstellung steht mir näher, ist mir verwandter und vertrauter als viele der sogenannten wirklichen Menschen mit ihrer metaphysischen, Fleisch und Blut genannten Nutzlosigkeit. Und dieses »Fleisch und Blut« beschreibt sie in der Tat bestens: Sie wirken wie Fleischstücke in der marmornen Auslage einer Metzgerei, tote Leben, blutend wie lebendige, Koteletts und Keulen des Schicksals.

Ich schäme mich dieser Gefühle nicht, denn ich habe festgestellt, daß alle so fühlen. Die scheinbar unter den Menschen herrschende Geringschätzung oder Gleichgültigkeit, die es erlaubt, zu töten wie Mörder, die nicht fühlen, daß sie töten, oder wie Soldaten, die nicht darüber nachdenken, was sie tun, rührt daher, daß niemand der scheinbar abstrusen Tatsache Beachtung schenkt, daß die anderen ebenfalls Menschenseelen sind.

An manchen Tagen, zu manchen Zeiten, herbeigeweht von ich weiß nicht welcher Brise und mir erschlossen durch das Aufgehen ich weiß nicht welcher Tür, spüre ich mit einem Mal, daß der Kolonialwarenhändler an der Ecke ein geistiges Wesen, daß der Lehrling, der sich in diesem Augenblick an der Tür über den Kartoffelsack beugt, tatsächlich eine leidensfähige Seele ist.

Als man mir gestern erzählte, der Angestellte des Tabakladens habe Selbstmord begangen, kam mir dies wie eine Lüge vor. Der Ärmste, er hatte also ebenfalls existiert! Wir hatten das ganz vergessen, wir alle, wir alle, die ihn auf die gleiche Weise kannten wie alle, die ihn nicht kannten. Morgen werden wir ihn um so leichter vergessen. Daß er aber eine Seele hatte, steht fest, denn schließlich hat er sich umgebracht. Leidenschaft? Angst? Zweifellos … Doch mir wie der gesamten Menschheit bleibt nur die Erinnerung an ein dümmliches Lächeln über einem buntgemusterten, schmutzigen und an den Schultern schief sitzenden Jackett. Das ist alles, was ich behalten habe von jemandem, der so stark gefühlt hat, daß er sich vor lauter Gefühl das Leben genommen hat, denn aus einem anderen Grund bringt sich wohl niemand um … Ich dachte einmal, als ich bei ihm Zigaretten kaufte, daß er bald eine Glatze bekäme. Dazu ist ihm nun keine Zeit mehr geblieben. Das ist eine der Erinnerungen, die ich an ihn habe. Was für eine sonst könnte ich haben, da sie im Grunde nicht ihm gilt, sondern an einen meiner Gedanken anknüpft?