»Ich bewundere Ihren Geschmack«, versicherte Carmody. »Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle? Ich bin Thomas Carmody.« Er wandte sich lachend um, die Hand ausgestreckt. Aber da war niemand hinter seiner linken Schulter, und hinter seiner rechten war auch keiner. Niemand war auf der Piazza, überhaupt nirgendwo ließ sich jemand blicken.
»Verzeih mir«, sagte die Stimme. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte, du wüßtest Bescheid.«
»Über was?« fragte Carmody.
»Über mich natürlich.«
»Also, ich weiß nichts«, sagte Carmody. »Wer bist du und von wo redest du mit mir?«
»Ich bin die Stimme der Stadt«, erklärte die Stimme. »Oder, etwas sinnvoller ausgedrückt, ich bin die Stadt selbst, die mit dir redet, die wunderschöne Stadt hier.«
»Tatsächlich?« meinte Carmody sardonisch. »Ja«, antwortete er sich selbst. »Ich nehme an, es ist tatsächlich so. Also, alles klar, du bist eine Stadt. Muß wohl so sein. Toll von dir.«
Tatsächlich war Carmody die ganze Sache über. Er war zu vielen Wesenheiten mit gewaltigen und wunderbaren Fähigkeiten begegnet. Kräfte, Wesen und Personifikationen waren ihm entgegengetreten, unglaublich fremdartig und in nie abreißender Kette, bis es ihm auf den Nerv zu fallen begann. Carmody war ein einsichtiger Mensch. Er wußte, daß es eine interstellare Hackordnung gab, und daß Menschen in dieser Hackordnung ziemlich weit unten standen. Aber er war auch ein stolzer Mensch. Er glaubte, daß ein Mann etwas darzustellen hatte, und wenn schon nichts anderes, dann eben sich selbst. Ein Mann konnte nicht ständig durch die Gegend laufen und die Augen aufreißen und >Ah< und >Oh!< und >Du meine Güte!< rufen. Jedenfalls nicht solange er einen gewissen Respekt vor sich selbst behalten wollte. Und Carmody besaß sehr viel Selbstrespekt. Es gehörte zu den wenigen Dingen, die er auch jetzt noch immer besaß.
Deshalb wandte Carmody sich von dem Springbrunnen ab und spazierte über die Piazza wie ein Mann, der sein Leben lang mit Städten gesprochen hat und dem solche Gespräche schon ein wenig langweilig zu werden beginnen. Er wanderte mehrere Straßen entlang und bog in eine breite Avenue ein. Er besah sich ein Haus nach dem anderen, spähte hin und wieder in die Fenster und blieb manchmal kurz vor einer schönen Fassade stehen.
»Na?« sagte die Stadt nach einiger Zeit.
»Was, na?« antwortete Carmody sofort.
»Was hältst du von mir?«
»Du bist o.k.«, sagte Carmody.
»Nur okay?«
»Sieh mal«, erklärte Carmody, »eine Stadt ist eine Stadt. Wenn man eine kennt, kennt man auch alle anderen.«
»Das ist nicht wahr!« behauptete die Stadt ein wenig pikiert. »Ich bin ganz ausgesprochen anders als andere Städte. Ich bin einzigartig.«
»Bist du das?« fragte Carmody unwirsch. »Für mich siehst du wie ein Konglomerat geschmacklos zusammengewürfelter Stilrichtungen und Epochen aus. Du hast eine italienische Piazza, griechische Statuen, eine Straße mit Tudor-Häusern, einen kalifornischen Hamburgerstand in der Form einer Dschunke und Gott weiß was sonst noch. Was soll daran so einzigartig sein?«
»Die Kombination all dieser Formen zu einer wohlabgestimm-ten Einheit in Harmonie und Funktionalität ist das einzigartige«, sagte die Stadt. »Die alten Stile sind keine Anachronismen, sondern sie sind repräsentative Lebensangebote.«
»Deiner Meinung nach jedenfalls«, stellte Carmody fest. »Bei dieser Gelegenheit, hast du eigentlich einen Namen?«
»Aber natürlich«, sagte die Stadt. »Mein Name ist Schönwetter. Ich bin eine kreisfreie Stadt im Staate New Jersey. Darf ich dir ein paar Sandwichs oder einen Kaffee anbieten?«
»Kaffee klingt gut«, bedankte sich Carmody. Er erlaubte der Stimme von Schönwetter ihn um die nächste Ecke zu einem Straßencafe zu geleiten. Das Cafe hieß >O You Kid< und war die Kopie eines Saloons der Jahrhundertwende mit Tiffany-Lam-pen und Jugendstil-Mobiliar. Wie alles andere, was Carmody bisher in der Stadt gesehen hatte, war es fleckenlos sauber, aber ohne Menschen.
»Schöne Atmosphäre, was meinst du?« fragte Schönwetter.
»Bißchen wenig los für meinen Geschmack«, erwiderte Carmody. »Aber wenn man sowas mag, ist es sicher ganz nett.« Vor ihm erschien ein fahrbarer silberner Serviertisch, auf dem eine dampfende Tasse Cappucino stand. »Aber der Service scheint wenigstens gut zu sein«, fügte Carmody hinzu. Er schlürfte seinen Kaffee.
»Gut?« wollte Schönwetter wissen.
»Ja, sehr gut.«
»Ich bin ziemlich stolz auf meinen Kaffee«, erklärte Schönwetter leise. »Und auf meine Küche. Möchtest du nicht auch eine Kleinigkeit essen? Ein Omlette vielleicht, oder ein Souffle?«
»Nichts«, sagte Carmody entschieden. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und meinte: »Du bist also sozusagen eine Modellstadt, nicht wahr?«
»Ja, das ist es, was ich die Ehre habe darzustellen«, antwortete Schönwetter. »Ich bin die neuste aller Modellstädte, und ich bin, wie mir selbst scheinen will, auch die erfolgreichste. Zwei europäische Designer, fünfzehn amerikanische Architekten, die RAND-Corporation, drei Havard-Studiengruppen, die Universität Chikago und das Pentagon haben an mir zusammengearbeitet.«
»Das ist schon was«, sagte Carmody und schlug mit einer gewissen Nonchalance die Beine übereinander. »Soll das da drüben eine gotische Kathedrale sein?«
»Ja, ganz gotisch«, bestätigte Schönwetter. »Sie ist übrigens ökumenisch und hat dreihundert Sitzplätze und zwei transportable Beichtstühle.«
»Das hört sich nicht sehr viel an für ein Gebäude dieser Größe.«
»Nein, das ist ja auch nicht viel. Aber ich wollte gerne Erhabenheit mit Gemütlichkeit kombinieren. Vielen Leute hat es so sehr gut gefallen.«
»Ach, bei dieser Gelegenheit«, faßte Carmody vorsichtig nach, »wo sind denn die Leute eigentlich gerade? Ich habe noch keine gesehen.«
»Sie sind fortgegangen«, sagte Schönwetter traurig. »Sie sind alle ausgezogen.«
»Warum?« erkundigte sich Carmody mitfühlend.
Schönwetter war für eine Weile still, dann sagte es: »Es gab einen Bruch in der Beziehung von Stadt und Bürgern. Mißverständnisse eigentlich nur. Oder, vielleicht sollte ich besser sagen, eine Kette von unglücklichen Zwischenfällen. Ich vermute, daß subversive Kräfte dabei eine Rolle gespielt haben.«
»Aber was genau ist denn passiert?«
»Ich weiß nicht«, sagte Schönwetter. »Ich weiß es wirklich nicht. Eines Tages zogen einfach alle aus. Einfach so! Aber ich bin sicher, sie werden eines Tages zurückkommen.«
»Das frage ich mich«, murmelte Carmody.
»Ich bin überzeugt davon«, versicherte Schönwetter. »Aber inzwischen, warum bleibst du nicht selbst ein wenig hier, Tom Carmody?«
»Ich? Ich glaube wirklich nicht -«
»Du machst einen erschöpften Eindruck«, erklärte ihm Schönwetter. »Richtig schlecht siehst du aus. Ich glaube wirklich, du könntest etwas Erholung gebrauchen und jemanden, der sich um dich kümmert, Tom.«
»Ich habe in der letzten Zeit einiges mitgemacht und war viel unterwegs«, gab Carmody zu.
»Wer weiß, vielleicht gefällt es dir hier«, sagte Schönwetter. »Und in jedem Fall hast du hier die modernste, hochentwickel-ste Stadt der Welt ganz für dich allein. Nur wir beide sind hier, Tom.«
»Das hört sich nicht schlecht an«, meinte Carmody. »Ich überlege es mir.«
Irgendwie faszinierte ihn die Stadt Schönwetter. Aber er blieb auch vorsichtig. Er hätte gerne genau gewußt, was aus den früheren Bewohnern der Stadt geworden war.
XXIII
Schönwetter bestand darauf Carmody für die Nacht in der Hochzeitssuite des King George Hotels unterzubringen. Am nächsten Morgen erwachte er ausgeruht und dankbar. Er hatte eine längere Denkpause bitter nötig gehabt.