Schönwetter servierte ihm das Frühstück auf der Terrasse und spielte ihm dazu ein erfrischendes Haydn-Quartett. Die Luft war köstlich dort draußen. Wenn Carmody es nicht von Schönwetter erzählt bekommen hätte, wäre er nie darauf gekommen, daß sie gefiltert war. Von der Terrasse hatte er einen herrlichen Blick über Schönwetters westliches Viertel -eine lustige Ansammlung von chinesischen Pagoden, venezianischen Brücken, japanischen Gärten, grünen Hügeln, korinthischen Tempeln, einem Parkplatz, einem normannischen Turm und vielen anderen netten Sachen.
»Man hat hier einen herrlichen Blick«, erzählte er der Stadt.
»Ich bin so glücklich, daß dir das gefällt«, antwortete Schönwetter. »Weißt du, für mich sind architektonische Sachen sehr wichtig. Man hat sich bei meinem Bau lange über den Stil gestritten. Erst wollte man ja etwas Einheitliches, aber dann hat man doch gemerkt, daß das nur langweilig und künstlich wirken würde, weil all die anderen Modellstädte auch, denen man sofort anmerkt, daß sie nur von einem Menschen oder einer Architektengruppe vielleicht entworfen worden sind.«
»Aber du bist doch auch irgendwie künstlich, findest du nicht?«
»Natürlich! Aber ich gebe auch nicht vor, irgend etwas anderes zu sein. Ich bin kein nachgemachtes Futuropolis oder ein schlechtes florentinisches Imitat. Ich bin ein architektonisches Konglomerat, aber damit bin ich anregend und interessant, und dabei zugleich funktionell und praktisch.«
»Also, Schönwetter, für mich bist du in Ordnung«, versicherte Carmody. »Reden alle Modellstädte wie du?«
»Nein«, sagte Schönwetter. »Die meisten Städte bis in die jüngste Gegenwart haben nie ein Wort gesagt, ob sie nun Modellstädte waren oder nicht. Aber ihre Bewohner haben das nicht gemocht. Sie mochten keine Stadt, die alles machte, ohne ein Wort dabei zu sagen. Die Stadt wirkte zu riesig, zu überlegen, zu seelenlos. Deshalb hat man mich mit einem künstlichen Bewußtsein ausgestattet.«
»Ich verstehe«, sagte Carmody.
»Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Das künstliche Bewußtsein gibt mir eine Persönlichkeit, was in einer Zeit der allgemeinen Entpersönlichung eine wichtige Sache ist. Es versetzt mich in die Lage, wirklich Verantwortung zu empfinden. Es erlaubt mir Kreativität bei der Erfüllung der Bedürfnisse meiner Bewohner zu entwickeln. Wir können miteinander diskutieren, meine Bewohner und ich. Wir können uns im Gespräch aufeinander einstellen, ohne dabei unsere Individualität aufgeben zu müssen, im permanenten Dialog bleiben.«
»Das hört sich schön an«, sagte Carmody. »Aber natürlich nur, wenn man darüber hinwegsieht, daß du niemanden mehr hier hast, mit dem du deine Dialoge führen kannst.«
»Das ist der einzige Fehler an der Sache«, gab Schönwetter zu. »Aber für den Augenblick habe ich ja dich.«
»Ja, du hast mich«, bestätigte Carmody und fragte sich, warum die Worte in seinen Ohren so einen unangenehmen Beiklang hatten.
»Und natürlich hast du mich auch«, sagte Schönwetter. »Es ist eine reziproke Beziehung, und beiderseitige Beziehungen sind die einzigen, die sich überhaupt lohnen. Aber nun, lieber Tom, sollte ich dir mich ein wenig zeigen. Dann kannst du dich in Ruhe irgendwo hinsetzen und an mich anpassen.«
»Und was?«
»Ich habe es nicht so gemeint. Es ist nur so, daß ich immer wieder in städtebaulichen Konzeptionen denke, und da ist Anpassung ein geläufiger Begriff. Aber du verstehst doch sicher, daß eine Zweierbeziehung eine Anpassung von beiden Seiten verlangt, wenn sie zu einer wirklich guten Beziehung werden soll.«
»Und wenn es nun eine sogenannte freie Partnerschaft ist?«
»Wir wollen eigentlich von so etwas wieder weg«, sagte Schönwetter. »Weißt du, diese Freiheit in der Beziehung ist ja doch nur Tarnung für gegenseitigen Egoismus. Wir dürfen den anderen nicht damit erpressen. Wenn du dann bitte hier entlang kommst . . .«
Carmody ging hin, wo er hingehen sollte, und sah sich an, was Schönwetter meinte, müsse er sich ansehen. Das Kraftwerk, die Kläranlagen, den Industriepark, die Fernheizung. Er sah den Kindergarten und den Seniorentreff. Er besichtigte ein Museum für Lokalgeschichte und eine Galerie, eine Konzerthalle und ein Theater, eine Bowlingbahn, einen Billardsaal, ein Kasino, eine Go-kart-Bahn, ein Kino. Er wurde müde und fußlahm und wollte eine Pause. Aber Schönwetter bestand darauf sich vorzuführen und Carmody mußte sich das fünfstöckige American Express Gebäude ansehen, die portugiesische Synagoge, das Buckminster Fuller-Denkmal, die Greyhound Bus Station und verschiedene andere Attraktionen.
Endlich war es vorbei. Carmody kam zu dem Schluß, daß die Wunder einer Modellstadt nicht besser oder schlechter als die Wunder der Galaxis waren, und das man von beidem eher wunde Füße als strahlende Augen bekam.
»Ein kleiner Lunch jetzt, was hältst du davon?« fragte Schönwetter.
»Fein«, sagte Carmody.
Er wurde zu einem stilvollen französischen Restaurant geführt und bekam ein opulentes französisches Menü serviert. Nach dem Käse fragte Schönwetter: »Und wie wäre es jetzt noch mit ein wenig Obst?«
»Ich bin absolut voll. Ich platze gleich«, versicherte Carmody.
»Einen Apfel wenigstens, einen Pfirsich oder ein paar Trauben?«
»Nein, vielen Dank.«
»Kirschen, vielleicht? Mit Sherry?«
»Nein, nein, nein.«
»Eine Mahlzeit ist nicht komplett, ohne ein wenig Obst zur Abrundung«, beharrte Schönwetter.
»Meine Mahlzeit schon«, erklärte Carmody.
»Es gibt wichtige Vitamine, die du nur aus frischen Früchten erhalten kannst.«
»Ich muß eben ohne diese Vitamine durchkommen.«
»Vielleicht eine halbe Orange, die ich dir vorher schäle? Zitrusfrüchte stopfen überhaupt nicht.«
»Ich kann einfach nicht mehr.«
»Nicht einmal ein Viertelchen Apfelsine? Wenn ich dir alle Kerne rauspule?«
»Ganz entschieden - nein!«
»Ich würde mich einfach besser fühlen«, erklärte Schönwetter. »Ich habe ein starkes Streben nach Harmonie und Vollständigkeit, weißt du, Tom. Und kein Essen ist vollständig ohne ein wenig Obst zum Dessert.«
»Nein!!!«
»Schon gut, reg dich bitte nicht auf«, sagte Schönwetter. »Wenn du das Essen nicht magst, das ich serviere, ist das deine Sache.«
»Aber ich mag es ja!«
»Aber wenn du es so gerne magst, warum läßt du dir dann nicht noch etwas Obst schmecken?«
»Genug«, sagte Carmody erschöpft. »Bring mir ein paar Trauben.«
»Ich möchte dir wirklich nichts aufdrängen.«
»Du drängst mir nichts auf. Bring sie mir, bitte.«
»Du bist ganz sicher?«
»Gib sie mir!« brüllte Carmody.
»Da nimm«, verkündete Schönwetter und produzierte eine großartige Rebe Muskatellertrauben. Carmody aß sie alle. Sie waren ganz ausgezeichnet.
Carmody stand auf einer kleinen geschwungenen Brücke und blickte über eine blaue Lagune.
»Dies ist eine Kopie der Rialto-Brücke von Venedig«, sagte Schönwetter. »Maßstäblich verkleinert, natürlich.«
»Ich weiß«, sagte Carmody. »Ich habe das Schild gelesen.«
»Es ist zauberhaft, findest du nicht, die Lagune und die Brücke?«
»Sicher, sehr hübsch«, sagte Carmody und zündete sich eine Zigarette an. Automaten gab es überall. Geld brauchte man keines.
»Du rauchst ziemlich viel, nicht wahr«, meinte Schönwetter.
»Ich weiß. Mir ist zur Zeit danach.«
»Als dein medizinischer Ratgeber muß ich dich darauf hinweisen, daß ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs besteht.«
»Ich weiß.«
»Wenn du Pfeife rauchen würdest, hättest du wesentlich bessere Chancen.«
»Ich mag keine Pfeifen.«
»Wie steht es denn mit Zigarren?«