Gewissenhaft pirschte sie direkt unterhalb des Dornbuschs durch das hohe Gras am Fuß des Bahndamms. Endlich hatte ihre Suche Erfolg. Sie fand eine Puderdose, ein kleines billiges Ding aus Email. Sie wickelte sie in ihr Taschentuch und steckte es in die Tasche. Sie suchte weiter, fand aber sonst nichts.
Am folgenden Nachmittag stieg sie in ihren Wagen und besuchte ihre gebrechliche Tante. Emma Crackenthorpe sagte netterweise: «Lassen Sie sich ruhig Zeit. Bis zum Abendessen können wir Sie entbehren.»
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber um sechs bin ich spätestens zurück.»
Nr. 4 Madison Road war ein kleines graues Haus in einer kleinen grauen Straße. Es hatte blitzsaubere Vorhänge aus Nottinghamer Spitze, eine glänzende weiße Eingangsstufe und einen blank polierten Türknauf aus Messing. Die Tür wurde von einer hoch gewachsenen, sauertöpfischen Frau geöffnet, die Schwarz trug und das Haar zu einem großen stahlgrauen Knoten geschlungen hatte.
Sie beäugte Lucy misstrauisch und abschätzig, als sie sie zu Miss Marple führte.
Miss Marple bewohnte das Hinterzimmer mit Blick auf ein kleines, gepflegtes Gartenrechteck. Das Zimmer war penibel aufgeräumt, mit Untersetzern und Zierdeckchen versehen, einer Unmenge von Chinoiserien, einem großen Lehnsessel aus der Zeit Jakobs I. und zwei Topffarnen. Miss Marple saß in einem Ohrensessel am Kamin und häkelte emsig.
Lucy trat ein, zog die Tür zu und setzte sich Miss Marple gegenüber in einen Sessel.
«Tja», sagte sie. «Es sieht so aus, als hätten Sie Recht gehabt.»
Sie packte ihre Funde aus und schilderte, wie sie dazu gekommen war.
Miss Marples Wangen röteten sich vor Genugtuung.
«Es mag ein unschickliches Gefühl sein», sagte sie, «aber es ist erfreulich, eine Hypothese aufzustellen, die sich dann bewahrheitet!»
Sie betastete das kleine Pelzbüschel. «Elspeth sagte, die Frau habe einen hellen Pelzmantel getragen. Ich nehme an, die Puderdose steckte in der Manteltasche und fiel heraus, als die Leiche die Böschung hinabrollte. Sie sieht unbedeutend aus, aber vielleicht hilft sie uns weiter. Sie haben nicht den ganzen Pelz mitgenommen?»
«Nein, die Hälfte habe ich am Dornbusch gelassen.»
Miss Marple nickte anerkennend.
«Gut so. Sie sind sehr intelligent, Liebes. Die Polizei wird Ihre Angaben überprüfen wollen.»
«Sie wollen zur Polizei – mit diesen Dingen?»
«Also – noch nicht…» Miss Marple überlegte: «Ich halte es für besser, wenn wir zuerst die Leiche finden. Glauben Sie nicht auch?»
«Doch, aber ist das nicht ziemlich viel verlangt? Ich meine, angenommen, Ihre Annahme stimmt. Der Mörder hat die Leiche aus dem Zug gestoßen, ist in Brackhampton ausgestiegen und später – wahrscheinlich noch am selben Abend – vorbeigekommen, um die Leiche fortzuschaffen. Aber was ist danach geschehen? Er kann sie doch überallhin gebracht haben.»
«Nicht überallhin», sagte Miss Marple. «Ich glaube, Sie haben die Angelegenheit nicht bis an ihr logisches Ende durchdacht, meine liebe Miss Eyelesbarrow.»
«Nennen Sie mich doch Lucy. Warum nicht überallhin?»
«Weil es in dem Fall viel leichter gewesen wäre, das Mädchen an einem einsamen Fleckchen umzubringen und die Leiche dann in aller Ruhe wegzuschaffen. Sie haben nicht daran gedacht –»
Lucy unterbrach.
«Wollen Sie damit sagen – heißt das – dieses Verbrechen wurde vorsätzlich begangen?»
«Zunächst hatte ich das ausgeschlossen», sagte Miss Marple. «Von so etwas geht man ja nicht direkt aus. Es sah wie ein Streit aus, bei dem der Mann die Nerven verliert, das Mädchen erdrosselt und plötzlich vor dem Problem steht, das Opfer wegbringen zu müssen, einem Problem, das er binnen weniger Minuten lösen muss. Aber es wäre ein zu großer Zufall, wenn er das Mädchen in einer Gefühlsaufwallung ermordet, aus dem Fenster gesehen und eine Kurve genau an der Stelle vorgefunden hätte, wo er die Leiche hinausschubsen und sie später wieder finden und beseitigen konnte! Hätte er sie einfach so hinausgeworfen und später nichts mehr unternommen, dann wäre die Leiche schon vor langer Zeit gefunden worden.»
Sie schwieg. Lucy starrte sie an.
«Wissen Sie», sagte Miss Marple nachdenklich, «ich glaube, wir haben es hier mit einem von langer Hand vorbereiteten Verbrechen zu tun – der Täter muss ein ganz geriebener Bursche sein. Ein Zug hat so etwas Anonymes. Hätte er die Frau dort umgebracht, wo sie wohnte oder abgestiegen war, dann hätte sein Kommen oder Gehen auffallen können. Hätte er sie aufs Land gefahren, dann hätten der Wagen, sein Kennzeichen und Fabrikat auffallen können. Aber in einem Zug herrscht sowieso ein ständiges Kommen und Gehen von Fremden. Wenn er in einem Wagen ohne Gang mit ihr allein war, konnte er sie problemlos beseitigen – zumal er seinen nächsten Schritt bereits genau kannte. Er wusste alles über Rutherford Hall – er muss es gewusst haben: seine geographische Lage, die seltsame Abgeschiedenheit nämlich – eine von Eisenbahngleisen umschlossene Insel.»
«Genau das ist es», sagte Lucy. «Rutherford Hall ist ein Anachronismus. Das geschäftige Treiben der Stadt umspült das Anwesen, überflutet es aber nie. Morgens bringen die Lieferanten ihre Waren, das ist alles.»
«Wir können also davon ausgehen, wie Sie eben sagten, dass der Mörder am Abend nach Rutherford Hall gekommen ist. Als der Leichnam hinabstürzte, war es schon dunkel, und es war nicht anzunehmen, dass er vor Tagesanbruch entdeckt würde.»
«Allerdings nicht.»
«Wie kam der Mörder wohl hin? Im Auto? Auf welchem Weg?»
Lucy überlegte.
«Es gibt einen Feldweg, der an einer Fabrikmauer entlangführt. Wahrscheinlich ist er aus dieser Richtung gekommen, in die Unterführung eingebogen und zur Lieferantenzufahrt weitergefahren. Dann konnte er über den Zaun steigen, unten am Bahndamm entlang bis zur Leiche gehen und sie zum Auto zurücktragen.»
«Und dann hat er sie an einen Ort gebracht, den er sich bereits ausgesucht hatte», spann Miss Marple den Gedanken weiter. «Das Ganze war wohl überlegt. Und ich glaube, wie gesagt, nicht, dass er sie von Rutherford Hall entfernt hat, oder wenn, dann nicht sehr weit. Das Einfachste wäre doch wohl, sie irgendwo zu vergraben, oder?» Sie sah Lucy forschend an.
«Ja, wahrscheinlich», sagte Lucy nachdenklich. «Aber das ist schwieriger, als es sich anhört.»
Miss Marple pflichtete ihr bei.
«Im Park konnte er sie nicht begraben. Zu viel Arbeit und zu auffällig. Irgendwo, wo die Erde bereits aufgewühlt war?»
«Vielleicht im Küchengarten, aber der liegt ganz in der Nähe vom Cottage des Gärtners. Er ist zwar alt und schwerhörig – aber riskant wäre es trotzdem.»
«Gibt es einen Hund?»
«Nein.»
«Dann vielleicht in einer Remise oder einem Nebengebäude?»
«Das wäre einfacher und ginge schneller… Es gibt eine ganze Reihe nicht mehr benutzter alter Gebäude; eingefallene Schweineställe, Sattelkammern, Werkstätten, die nie betreten werden. Er könnte sie auch einfach in eine Rhododendrongruppe oder ein Gebüsch geworfen haben.»
Miss Marple nickte.
«Ja, das halte ich für sehr viel wahrscheinlicher.»
Es klopfte an der Tür, und die sauertöpfische Florence kam mit einem Tablett herein.
«Schön, dass Sie Besuch haben», sagte sie zu Miss Marple. «Ich habe Ihnen meine Biskuits gebacken, die Sie immer so gemocht haben.»
«Florence backt einfach köstliches Teegebäck», sagte Miss Marple.