Notfalls konnte Lucys Stimme messerscharf klingen. Florence wusste, wie weit sie gehen konnte.
Kurz darauf drang Miss Marples Stimme durch den Hörer.
«Ja, Lucy?»
Lucy holte tief Luft.
«Sie hatten Recht», sagte sie. «Ich habe sie gefunden.»
«Eine Frauenleiche?»
«Ja. Eine Frau in einem Pelzmantel. Sie liegt in einem Steinsarkophag in einer Art Museumsscheune beim Haus. Was soll ich jetzt machen? Ich glaube, ich sollte die Polizei rufen.»
«Ja. Sie müssen die Polizei rufen. Sofort.»
«Aber was ist mit allem anderen? Was ist mit Ihnen? Als Erstes wird man mich doch fragen, warum ich scheinbar ohne jeden Grund einen tonnenschweren Steindeckel hochstemme. Soll ich einen Grund erfinden? Mir würde schon einer einfallen.»
«Nein», sagte Miss Marple leise, aber bestimmt, «ich glaube, Sie wissen, dass Sie jetzt die volle Wahrheit sagen müssen.»
«Über Sie?»
«Über alles.»
Plötzlich erschien ein Lächeln auf Lucys blassem Gesicht.
«Nichts leichter als das», sagte sie. «Aber ich könnte mir denken, dass man mir kaum glauben wird.»
Sie hängte ein, wartete einen Augenblick und wählte dann die Nummer der Polizeiwache.
«Ich habe soeben einen Leichnam in einem Sarkophag in der Großen Scheune von Rutherford Hall entdeckt.»
«Wie bitte?»
Lucy wiederholte den Satz, nahm die nächste Frage vorweg und nannte ihren Namen.
Sie fuhr zurück, stellte den Wagen ab und ging ins Haus.
In der Halle blieb sie kurz stehen und überlegte.
Dann nickte sie und ging in die Bibliothek, wo Miss Crackenthorpe ihrem Vater bei der Lösung des Times-Kreuzworträtsels half.
«Kann ich Sie kurz sprechen, Miss Crackenthorpe?»
Emma sah hoch, und ein Schatten überzog ihr Gesicht. Lucy nahm an, dass ihre Besorgnis häusliche Gründe hatte. Mit solchen Sätzen leiteten nützliche Hausangestellte üblicherweise ihre Kündigung ein.
«Reden Sie schon, Mädchen, reden Sie», sagte der alte Mr. Crackenthorpe gereizt.
Lucy sagte zu Emma:
«Ich würde Sie gern einen Augenblick allein sprechen.»
«Unsinn», sagte Mr. Crackenthorpe. «Sagen Sie nur frei heraus, was Sie zu sagen haben.»
«Lass nur, Vater.» Emma erhob sich und kam zur Tür.
«So ein Unsinn. Das kann doch warten», sagte der alte Mann verschnupft.
«Ich fürchte, es kann nicht warten», sagte Lucy.
«So eine Unverschämtheit!», sagte Mr. Crackenthorpe.
Emma trat in die Halle hinaus. Lucy folgte ihr und schloss die Tür hinter ihnen.
«Ja?», fragte Emma. «Worum geht es denn? Wenn Ihnen die Arbeit zu viel wird, seit die Jungen hier sind, dann kann ich Ihnen helfen, und –»
«Darum geht es nicht», sagte Lucy. «Ich wollte nur nicht vor Ihrem Vater darüber sprechen, weil er als kranker Mann einen Schock erleiden könnte. Ich habe im Sarkophag in der Großen Scheune nämlich die Leiche einer ermordeten Frau gefunden.»
Emma Crackenthorpe starrte sie an.
«Im Sarkophag? Eine ermordete Frau? Das ist doch unmöglich!»
«Ich fürchte, es ist nur zu wahr. Ich habe die Polizei gerufen. Sie müsste jeden Augenblick hier sein.»
Emmas Wangen röteten sich.
«Sie hätten mir zunächst Bescheid sagen sollen – bevor Sie die Polizei benachrichtigten.»
«Es tut mir Leid», sagte Lucy.
«Ich habe Sie gar nicht telefonieren gehört –» Emmas Blick streifte das Telefon auf dem Tischchen.
«Ich habe vom Postamt unten an der Straße aus angerufen.»
«Wie sonderbar. Warum nicht von hier?»
Lucy suchte fieberhaft nach einer Ausrede.
«Ich hatte Angst, die Jungen könnten in der Nähe sein – etwas mitbekommen – wenn ich aus der Halle telefoniere.»
«Verstehe… ja… ich verstehe… Sie ist also unterwegs… die Polizei, meine ich?»
«Sie ist schon da», sagte Lucy. Ein Auto kam mit quietschenden Bremsen vor dem Portal zum Stehen, und kurz darauf hallte das Klingeln der Türglocke durchs Haus.
«Es tut mir Leid, sehr Leid – dass ich Sie hierum bitten musste», sagte Inspector Bacon.
Er stützte Emma Crackenthorpe und führte sie aus der Scheune. Emmas Gesicht war aschfahl, sie sah krank aus, hielt sich aber kerzengerade.
«Ich bin ganz sicher, dass ich diese Frau noch nie in meinem Leben gesehen habe.»
«Wir sind Ihnen sehr verbunden, Miss Crackenthorpe. Mehr wollte ich nicht wissen. Möchten Sie sich vielleicht etwas hinlegen?»
«Ich muss zu meinem Vater. Ich habe sofort Dr. Quimper angerufen, als ich davon erfahren habe, und der Arzt ist jetzt bei ihm.»
Als sie die Halle durchquerten, trat Dr. Quimper aus der Bibliothek. Er war ein leutseliger Mann von stattlichem Wuchs, dessen kaustischer Witz von seinen Patienten sehr geschätzt wurde.
Der Inspector und er nickten sich zu.
«Miss Crackenthorpe hat sich unerschrocken einer sehr unangenehmen Aufgabe gestellt», sagte Bacon.
«Gut gemacht, Emma», sagte der Arzt und klopfte ihr auf die Schulter. «Sie halten etwas aus. Das habe ich schon immer gewusst. Ihr Vater hat es gut aufgenommen. Gehen Sie ruhig zu ihm hinein und sprechen Sie mit ihm, und dann kommen Sie in den Speisesaal und trinken einen Brandy. Das ist eine Verordnung.»
Emma lächelte ihn dankbar an und ging in die Bibliothek.
«Diese Frau ist das Salz der Erde», sagte der Arzt und sah ihr nach. «Ewig schade, dass sie nie geheiratet hat. Der Fluch, die einzige Frau in einer Familie von Männern zu sein. Ihre Schwester hat das Weite gesucht und mit siebzehn geheiratet, soweit ich weiß. Dabei ist die hier eine hübsche Frau. Sie wäre eine gute Frau und Mutter geworden.»
«Hängt zu sehr an ihrem Vater, nehme ich an», sagte Inspector Bacon.
«Ach, so sehr hängt sie gar nicht an ihm – aber sie weiß wie so viele Frauen instinktiv, wie man sein Mannsvolk glücklich macht. Sie sieht, dass ihr Vater gern invalid ist, also lässt sie ihn den Invaliden spielen. Ihre Brüder behandelt sie genauso. Cedric gibt sie das Gefühl, er sei ein guter Maler… wie heißt der andere… Harold weiß, wie wichtig ihr sein klares Urteil ist – und Alfred darf sie mit Geschichten von seinen Kuhhandeln schockieren. O ja – sie ist eine kluge Frau – lässt sich nicht so leicht zum Narren halten. Na egal, brauchen Sie mich noch? Soll ich mir jetzt, wo Johnstone fertig ist» – Johnstone war der Polizeipathologe – «die Leiche anschauen? Vielleicht ist sie ja einer meiner Kunstfehler.»
«Ja, Doktor, es wäre mir lieb, wenn Sie sie sich mal anschauen könnten. Wir müssen sie identifizieren. Ich fürchte, für den alten Mr. Crackenthorpe ist das unmöglich, oder? Eine zu große Belastung.»
«Belastung? Ach i wo. Das vergibt er Ihnen oder mir nie, wenn wir ihn keinen Blick drauf werfen lassen. Er ist richtig wild darauf. So etwas Spannendes ist ihm bestimmt seit fünfzehn Jahren nicht mehr passiert – und es kostet ihn keinen roten Heller!»
«Dann fehlt ihm also in Wirklichkeit gar nicht viel?»
«Er ist zweiundsiebzig», sagte der Arzt. «Das ist eigentlich schon alles, was ihm fehlt. Ab und zu plagt ihn das Rheuma – wem ginge das nicht so? Nur nennt er es Arthritis. Nach dem Essen hat er einen beschleunigten Puls – warum auch nicht? Aber er macht daraus gleich ein Herzleiden. Aber er kann alles tun, was er will. Ich habe viele solche Patienten. Die ernsthaft Kranken beharren meist stur darauf, dass sie kerngesund sind. Kommen Sie, schauen wir uns Ihre Leiche mal an. Unangenehmer Anblick, was?»
«Nach Johnstones Schätzung ist die Frau seit zwei bis drei Wochen tot.»
«Also ziemlich unangenehm.»
Der Arzt stand vor dem Sarkophag und ließ den «unangenehmen Anblick» mit unverhohlener Neugier, aber professioneller Nüchternheit auf sich wirken.