«Ja, Sir. Der Coroner ist schon verständigt.»
«Und für wann ist sie angesetzt?»
«Morgen. Meines Wissens werden die anderen Mitglieder der Familie Crackenthorpe bis dahin eingetroffen sein. Noch besteht die Möglichkeit, dass einer von ihnen die Frau identifizieren kann. Sie kommen alle her.»
Er sah auf eine Liste in der Hand.
«Harald Crackenthorpe ist irgendwas in der City – ein ziemlich hohes Tier, soweit ich informiert bin. Alfred – weiß nicht genau, was der macht. Cedric – das ist der im Ausland. Maler!» Im Mund des Inspectors erhielt das Wort seine ganze Anrüchigkeit. Der Chief Constable lächelte unter seinem Schnurrbart.
«Es gibt doch wohl keinen Grund zu der Annahme, dass die Familie Crackenthorpe in dieses Verbrechen verwickelt ist, oder?», fragte er.
«Der einzige wäre, dass die Leiche auf ihrem Anwesen gefunden wurde», sagte Inspector Bacon. «Und natürlich ist nicht auszuschließen, dass dieser Künstler in der Familie sie identifizieren kann. Ich werde bloß nicht schlau daraus, was diese ganzen Faseleien von einem Zug sollen.»
«Ja richtig. Sie haben die alte Dame aufgesucht – diese – ähm…», (er warf einen Blick auf die Notiz vor sich auf dem Tisch), «… diese Miss Marple?»
«Ja, Sir. Und sie behauptet das steif und fest. Ob sie plemplem ist oder nicht, kann ich nicht sagen, aber sie bleibt bei ihrer Geschichte – ihre Freundin habe alles gesehen und so weiter. Was das angeht, möchte ich behaupten, dass es ein reines Hirngespinst ist – was sich alte Damen eben so ausdenken, ob nun fliegende Untertassen unten im Garten oder russische Spione in der Leihbücherei. Unstrittig ist aber wohl, dass sie die junge Frau engagiert hat, diese Stütze der Hausfrau, und sie angewiesen hat, eine Leiche zu suchen – und das hat das Mädchen auch getan.»
«Und eine gefunden», bemerkte der Chief Constable. «Alles in allem ist das eine sehr ausgefallene Geschichte. Marple, Miss Jane Marple – der Name kommt mir irgendwie bekannt vor… na, ich werde mich mal mit dem Yard in Verbindung setzen. Ich glaube, Sie haben Recht; das ist kein Fall für die Ortspolizei – obwohl wir das noch nicht publik machen werden. Vorläufig geben wir möglichst wenig an die Presse weiter.»
Die gerichtliche Untersuchung war eine reine Formsache. Niemand meldete sich, um die Tote zu identifizieren. Lucy wurde gebeten, ihre Aussage zu wiederholen, wie sie den Leichnam gefunden hatte, und das medizinische Gutachten lautete auf Tod durch Erdrosseln. Alles Weitere wurde vertagt.
Die Mitglieder der Familie Crackenthorpe verließen die Halle, in der die gerichtliche Untersuchung abgehalten worden war, und traten in einen kalten und stürmischen Tag hinaus. Sie waren zu fünft, Emma, Cedric, Harald, Alfred und Bryan Eastley, der Witwer der verstorbenen Tochter Edith. Auch Mr. Wimborne war anwesend, der Seniorpartner der Anwaltskanzlei, die die Crackenthorpes in allen Rechtssachen vertrat. Er war trotz großer Unannehmlichkeiten eigens aus London angereist, um an der gerichtlichen Untersuchung teilzunehmen. Alle standen eine Weile fröstelnd auf dem Gehweg. Eine ansehnliche Menschenmenge hatte sich versammelt; die pikanten Einzelheiten der «Leiche im Sarkophag» waren sowohl in der Londoner Presse als auch in der Lokalzeitung wiedergegeben worden.
Ein Gemurmel ging durch die Menge: «Da sind sie…»
Emma sagte schroff: «Fahren wir.»
Der große gemietete Daimler fuhr vor. Emma stieg ein und winkte Lucy zu sich. Mr. Wimborne, Cedric und Harold folgten. Bryan Eastley sagte: «Ich nehme Alfred in meiner Mühle mit.» Der Chauffeur schloss den Wagenschlag, und der Daimler fuhr an.
«Halt!», rief Emma. «Da sind die Jungen!»
Ihren lautstarken Protesten zum Trotz hatten die Jungen in Rutherford Hall bleiben müssen, aber jetzt waren sie plötzlich da und grinsten über das ganze Gesicht.
«Wir sind mit den Fahrrädern gekommen», sagte Stoddart-West. «Der Polizist war sehr freundlich und hat uns durch den Hintereingang in die Halle gelassen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Miss Crackenthorpe», fügte er höflich hinzu.
«Nein, hat sie nicht», sagte Cedric an Stelle seiner Schwester. «Man ist nur einmal jung. Eure erste gerichtliche Untersuchung, was?»
«Ich fand sie ziemlich enttäuschend», sagte Alexander. «Alles war so schnell vorbei.»
«Können wir diese Unterhaltung nicht abbrechen?», fragte Harold gereizt. «Nicht vor diesem Menschenauflauf. Und dann diese ganzen Männer mit ihren Kameras.»
Auf sein Zeichen hin setzte der Chauffeur den Wagen in Bewegung. Die Jungen winkten ihnen nach.
«Alles so schnell vorbei!», sagte Cedric. «Das glauben sie, diese Unschuldsengel. Jetzt geht es doch erst richtig los.»
«Das alles ist sehr bedauerlich. Äußerst bedauerlich», sagte Harold. «Ich nehme an –»
Er sah Mr. Wimborne an, der die dünnen Lippen aufeinander presste und angewidert den Kopf schüttelte.
«Ich hoffe, die Angelegenheit wird in Bälde umfassend geklärt sein», sagte er salbungsvoll. «Die Polizei ist sehr gründlich vorgegangen. Ich kann mich gleichwohl nur Harolds Bemerkung anschließen; das alles ist höchst bedauerlich.»
Während er das sagte, sah er Lucy an, und seine Miene drückte eindeutig Missbilligung aus. «Wäre diese junge Frau nicht gewesen, und hätte sie nicht herumgeschnüffelt, wo sie nichts zu suchen hatte, dann wäre das alles nicht passiert», sagte sein Blick.
Genau das oder eine sehr ähnliche Meinung wurde von Harold Crackenthorpe ausgesprochen.
«Ach, übrigens – ähm – Miss – äh – Eyelesbarrow, warum genau haben Sie überhaupt in diesen Sarkophag geschaut?»
Lucy hatte sich schon gewundert, warum es so lange dauerte, bis ein Familienmitglied das wissen wollte. Ihr war klar gewesen, dass die Polizei als Allererstes danach fragen würde; überraschend fand sie nur, dass bis jetzt sonst niemand darauf gekommen war.
Cedric, Emma, Harald und Mr. Wimborne sahen sie an.
Ihre Antwort hatte sie sich natürlich schon vor geraumer Zeit zurechtgelegt.
«Nun ja», sagte sie zögernd. «Ich weiß nicht so recht… ich hatte einfach das Gefühl, die Scheune müsste dringend aufgeräumt und sauber gemacht werden. Und dann war da…», sie zögerte, «… dieser eigentümliche und unangenehme Geruch…»
Sie hatte damit gerechnet, dass alle vor dieser unappetitlichen Vorstellung zurückschrecken würden…
Mr. Wimborne murmelte: «Ja, ja, natürlich… über drei Wochen, hat der Polizeiarzt gesagt… wissen Sie, ich glaube, wir sollten uns nicht zu eingehend damit beschäftigen.» Er lächelte die kreidebleich gewordene Emma aufmunternd an. «Vergessen Sie nicht», sagte er, «diese unglückselige junge Frau hatte doch mit uns nichts zu tun.»
«Da wäre ich mir nicht so sicher», sagte Cedric.
Lucy Eyelesbarrow sah ihn neugierig an. Die auffälligen Unterschiede zwischen den drei Brüdern hatten sie von Anfang an fasziniert. Cedric war ein stattlicher Mann mit wettergegerbtem, markigem Gesicht, strubbeligen schwarzen Haaren und heiterem Wesen. Er war mit Stoppelbart am Flughafen eingetroffen, und obwohl er sich für die gerichtliche Untersuchung rasiert hatte, trug er nach wie vor die Kleidung, in der er angekommen war. Anscheinend hatte er nichts anderes als die alte graue Flanellhose und eine geflickte, fadenscheinige und ausgebeulte Jacke. Ein Bohemien, wie er im Buche stand, und stolz darauf.
Sein Bruder Harald war im Gegensatz dazu der Inbegriff eines Gentleman aus dem Londoner Bankenviertel, eine Führungskraft in bedeutenden Unternehmen. Er war groß gewachsen und drückte stets das Kreuz durch, hatte schwarze, an den Schläfen sich lichtende Haare und einen schmalen schwarzen Schnurrbart, war tadellos gekleidet und trug einen dunklen, gut sitzenden Anzug mit perlgrauer Krawatte. Er schien, was er war, ein korrekter und erfolgreicher Geschäftsmann.