Lucy merkte, dass diese Haltung seinem Bruder Harold sauer aufstieß. Der schien den Mord als eine persönliche Beleidigung der Familie Crackenthorpe anzusehen und war dermaßen empört, dass er die Speisen kaum anrührte. Emma wirkte beunruhigt und unglücklich und aß ebenfalls nur wenig. Alfred schien tief in Gedanken versunken und sagte kaum ein Wort. Er war ein recht gut aussehender Mann mit einem schmalen dunklen Gesicht und eng stehenden Augen.
Nach dem Mittagessen kehrten die Polizeibeamten zurück und fragten höflich, ob sie wohl kurz Mr. Cedric Crackenthorpe sprechen dürften.
Inspector Craddock war leutselig und freundlich.
«Setzen Sie sich doch, Mr. Crackenthorpe. Wie ich höre, sind Sie soeben von den Balearen zurückgekehrt. Leben Sie dort unten?»
«Seit sechs Jahren. Auf Ibiza. Gefällt mir besser als dieses nasskalte Land.»
«Sie bekommen viel mehr Sonnenschein als wir, kann ich mir vorstellen», sagte Inspector Craddock verbindlich. «Aber Sie sollen erst kürzlich zu Hause gewesen sein – zu Weihnachten, genau gesagt. Warum mussten Sie schon so bald wieder kommen?»
Cedric grinste.
«Habe ein Telegramm von Emma bekommen, meiner Schwester. Wir hatten vorher noch nie einen Mord auf dem Gelände. Wollte nichts verpassen – also bin ich gekommen.»
«Interessieren Sie sich für Kriminologie?»
«Na, das Wort ist wohl etwas hochgestochen. Ich mag einfach Mordfälle – Detektivgeschichten und so! Und einen Mordfall vor der eigenen Haustür hat man nicht alle Tage. Außerdem dachte ich, die arme Em könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen – der alte Herr muss versorgt werden, die Polizei und was weiß ich noch alles.»
«Verstehe. Es reizte Ihren Sportsgeist und Ihren Familiensinn. Ich bezweifle nicht, dass Ihre Schwester Ihnen sehr dankbar ist – obwohl ihre beiden anderen Brüder ebenfalls hergekommen sind.»
«Aber nicht, um sie zu unterstützen und aufzubauen», erklärte Cedric ihm. «Harold ist schrecklich wütend auf sie. Der Finanzmann aus der City ist alles andere als angetan davon, dass er in die Ermordung einer Halbweltdame hineingezogen worden ist.»
Craddock zog leicht die Augenbrauen hoch.
«War sie – eine Halbweltdame?»
«Na, das müssten Sie doch am besten beurteilen können. Die Tatsachen scheinen mir jedenfalls ganz darauf hinzuweisen.»
«Ich dachte, Sie hätten vielleicht sogar einen Tipp, wer sie war.»
«Kommen Sie, Inspector, Sie wissen doch schon – oder Ihre Kollegen können es Ihnen sagen, dass ich sie nicht identifizieren konnte.»
«Ich sagte ja auch ‹einen Tipp›, Mr. Crackenthorpe. Sie haben die Frau vielleicht noch nie gesehen – aber Sie können unter Umständen erraten, wer sie war – oder wer sie gewesen sein könnte.»
Cedric schüttelte den Kopf.
«Da sind Sie auf dem Holzweg. Ich habe keinen blassen Schimmer. Sie wollen vermutlich darauf hinaus, dass sie in der Großen Scheune ein Rendezvous mit einem von uns hatte. Aber keiner von uns lebt hier. Im Haus wohnen nur eine Frau und ein alter Mann. Und Sie wollen wohl kaum im Ernst behaupten, dass sie zu einem Techtelmechtel mit meinem verehrten Paps hergekommen ist.»
«Wir gehen der Vermutung nach – und Inspector Bacon ist da ganz meiner Meinung –, dass die Frau früher einmal in Verbindung mit diesem Haus gestanden haben könnte. Das könnte durchaus einige Jahre her sein. Versetzen Sie sich doch in Gedanken einmal zurück, Mr. Crackenthorpe.»
Cedric überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.
«Wir hatten wie die meisten Leute von Zeit zu Zeit ausländisches Personal, aber mir fällt niemand ein, der dafür in Frage käme. Fragen Sie lieber die anderen – die wissen vielleicht mehr als ich.»
«Das werden wir selbstverständlich noch tun.»
Craddock lehnte sich zurück und fuhr fort: «Wie Sie bei der gerichtlichen Untersuchung gehört haben, kann der Pathologe den Zeitpunkt des Todes nur eingrenzen. Mehr als zwei Wochen, weniger als vier – also um Weihnachten herum. Sie sagten, Sie seien Weihnachten nach Hause gekommen. Wann sind Sie in England angekommen und wann wieder weggefahren?»
Cedric überlegte.
«Mal sehen… ich bin geflogen. Angekommen bin ich am Samstag vor Weihnachten – das muss also der 21. gewesen sein.»
«Sie hatten einen Direktflug ab Mallorca?»
«Ja. Bin um fünf Uhr früh los und war mittags hier.»
«Und zurück?»
«Da bin ich am Freitag darauf geflogen, am 27.»
«Vielen Dank.»
Cedric grinste.
«Zeitlich wäre es mir also dummerweise möglich gewesen. Aber ich muss Sie enttäuschen, Inspector, das Erdrosseln junger Frauen gehört nicht zu meinen weihnachtlichen Lieblingsbeschäftigungen. »
«Das will ich auch nicht hoffen, Mr. Crackenthorpe.»
Inspector Bacon sah bloß missbilligend drein.
«So etwas würde ja auch nicht gerade von Frieden und gutem Willen zeugen, meinen Sie nicht auch?»
Cedric richtete seine Frage an Inspector Bacon, der nur knurrte. Inspector Craddock sagte höflich:
«Vielen Dank, Mr. Crackenthorpe. Das wäre alles.»
«Na, was halten Sie von ihm?», fragte Craddock, als Cedric die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Bacon knurrte wieder.
«So blasiert, dass er zu allem imstande wäre», sagte er. «Ich mag diesen Menschentyp nicht. Ein loses Völkchen, diese Künstler, das oft genug Umgang mit zweifelhaften Frauenzimmern pflegt.»
Craddock lächelte.
«Und ich mag seine Kleidung nicht», fuhr Bacon fort. «Hat keinen Respekt – in so einem Aufzug zu einer gerichtlichen Untersuchung zu gehen. Die dreckigste Hose, die ich seit langem gesehen habe. Und haben Sie seine Krawatte gesehen? Sah aus wie aus bunten Bindfäden. Wenn Sie mich fragen, erdrosselt so ein Mann eine Frau ohne viel Federlesens.»
«Die hier hat er aber nicht erdrosselt – jedenfalls nicht, wenn er Mallorca wirklich erst am 21. verlassen hat. Aber das ist ja leicht nachzuprüfen.»
Bacon warf ihm einen kritischen Blick zu.
«Ich habe gemerkt, dass Sie das tatsächliche Datum des Verbrechens noch nicht preisgeben.»
«Nein, das behalten wir vorläufig für uns. Am Anfang einer Ermittlung habe ich gern noch einen Trumpf im Ärmel.»
Bacon war ganz seiner Meinung.
«Stimmt, es ist immer das Beste, man rückt erst im entscheidenden Moment damit raus», meinte er.
«Dann wollen wir mal hören, was unser korrekter City-Gentleman zu der Sache zu sagen hat», sagte Craddock.
Der zugeknöpfte Harold Crackenthorpe hatte sehr wenig zu sagen. Einfach geschmacklos – ein äußerst unglücklicher Vorfall. Er fürchte, die Zeitungen… die ersten Reporter hätten seines Wissens schon um Unterredungen gebeten… Dieser ganze Firlefanz… äußerst bedauerlich…
Harolds abgehackte Satzfetzen rissen ab. Er lehnte sich mit der Miene eines Mannes zurück, dem ein übler Gestank in die Nase gestiegen ist.
Die Nachfragen des Inspectors blieben ergebnislos. Nein, er habe keine Ahnung, wer die Frau war oder gewesen sein könne. Ja, er habe Weihnachten in Rutherford Hall verbracht. Er habe London erst Heiligabend verlassen können – sei aber über das folgende Wochenende geblieben.
«Das war’s dann schon», sagte Inspector Craddock, ohne Harold mit weiteren Fragen zuzusetzen. Ihm war bereits klar geworden, dass dieser keine große Hilfe sein würde.
Als Nächstes nahm er sich Alfred vor, der mit leicht übertriebener Nonchalance den Raum betrat.
Alfred Crackenthorpe kam Craddock dunkel bekannt vor. Dieses Familienmitglied hatte er doch schon gesehen? Oder war sein Bild in der Zeitung gewesen? Die Erinnerung hatte einen leichten Hautgout. Er erkundigte sich nach Alfreds Beruf, bekam aber nur eine ausweichende Antwort.