«Als Mr. Wimborne sagte, die Frau sei eine Ausländerin, warum dachten Sie da, sie sei Französin?»
Emma ließ sich nicht aus der Fassung bringen, zog nur leicht die Augenbrauen hoch.
«Habe ich das? Ja, stimmt, habe ich wohl. Ich weiß nicht warum – außer dass man ja alle Ausländer für Franzosen hält, bis man dann ihre wirkliche Nationalität erfährt. Die meisten Ausländer hierzulande sind doch Franzosen, oder?»
«Oh, das würde ich nicht sagen, Miss Crackenthorpe. Das hat sich längst geändert. Heutzutage gibt es hier so viele Nationalitäten, Italiener, Deutsche, Österreicher, die ganzen Skandinavier –»
«Ja, da haben Sie wohl Recht.»
«Sie haben also keinen besonderen Grund, warum Sie die Frau für eine Französin hielten?»
Sie verneinte es ohne Hast, überlegte bloß einen Augenblick und schüttelte dann fast bedauernd den Kopf.
«Nein», sagte sie. «Nein, eigentlich nicht.»
Ruhig hielt sie seinem Blick stand, zuckte mit keiner Wimper. Craddock sah Inspector Bacon an. Der beugte sich vor und hielt Miss Crackenthorpe eine kleine Puderdose aus Email hin.
«Kommt Ihnen das bekannt vor, Miss Crackenthorpe?»
Sie nahm die Dose in die Hand und untersuchte sie.
«Nein. Mir gehört sie nicht.»
«Wissen Sie, wem sie gehört hat?»
«Nein.»
«Dann brauchen wir Sie vorläufig nicht weiter zu behelligen, glaube ich.»
«Danke.»
Sie lächelte sie kurz an, erhob sich und verließ das Zimmer. Erneut bildete er es sich vielleicht nur ein, aber Craddock glaubte, sie bewege sich mit leichter Hast, wie getrieben von einer gewissen Erleichterung.
«Glauben Sie, sie weiß etwas?», fragte Bacon.
Inspector Craddock sagte bedauernd:
«In einem bestimmten Stadium unterstellt man jedem mehr Wissen, als er preisgeben will.»
«Und meistens liegt man damit richtig», bestätigte Bacon aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz. «Nur hat es oft nichts mit dem Fall zu tun, um den es gerade geht», fügte er hinzu, «sondern mit irgendeiner Jugendsünde, oder die Leute haben Angst davor, dass ihre schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit gewaschen wird.»
«Ja, das kenne ich. Na ja, wenigstens –»
Aber Inspector Craddocks Satz blieb unvollendet, denn die Tür flog auf, und ein äußerst aufgebrachter alter Mr. Crackenthorpe schlurfte herein.
«So weit kommt das noch, dass Scotland Yard anrückt und nicht mal den Anstand mitbringt, sich als Erstes mit dem Familienoberhaupt zu unterhalten! Wer ist denn hier wohl der Herr im Haus, können Sie mir das mal verraten? Na? Wer ist hier der Herr im Haus?»
«Natürlich Sie, Mr. Crackenthorpe», sagte Craddock besänftigend und erhob sich. «Wir waren davon ausgegangen, Sie hätten Inspector Bacon bereits alles gesagt, was Sie wissen, und angesichts Ihrer angegriffenen Gesundheit wollten wir Sie nicht über Gebühr strapazieren. Dr. Quimper sagte –»
«Das will ich meinen – das will ich meinen. Ein robuster Mann bin ich nicht… Aber was den Dr. Quimper angeht, der ist ein altes Waschweib – guter Arzt und voller Verständnis für meine Leiden – aber er neigt dazu, mich in Watte zu packen. Hat eine fixe Idee, was das Essen angeht. Als ich mir Weihnachten ein bisschen den Magen verdorben hatte, konnte er sich gar nicht wieder beruhigen – was hatte ich gegessen, wann, wer hatte es gekocht, wer aufgetragen – so ein Affentheater! Aber wenn meine Gesundheit auch nicht die beste ist, so geht es mir doch gut genug, um Ihnen zu helfen, wo ich nur kann. Ein Mord unter meinem Dach – oder zumindest in meiner Scheune! Übrigens ein interessanter Bau. Noch aus elisabethanischer Zeit. Der örtliche Architekt glaubt das zwar nicht, aber der Bursche weiß nicht, wovon er redet. Keinen Tag nach 1580 erbaut – aber darum geht es jetzt ja nicht. Also, was wollen Sie wissen? Was ist der Stand Ihrer Theorien?»
«Für Theorien ist es noch etwas zu früh, Mr. Crackenthorpe. Wir versuchen noch herauszufinden, wer die Frau war.»
«Ausländerin, sagten Sie?»
«Das nehmen wir an.»
«Feindliche Agentin?»
«Unwahrscheinlich, will ich meinen.»
«Wollen Sie meinen – wollen Sie meinen! Die sind überall, diese Leute. Infiltrieren das ganze Land! Mir unbegreiflich, warum die Einwanderungsbehörde sie ins Land lässt. Betreiben nichts als Wirtschaftsspionage, möchte ich wetten. Und sie hat das bestimmt auch gemacht.»
«In Brackhampton?»
«Sind doch überall Fabriken. Eine direkt vor unserem Hintertor.»
Craddock warf Bacon einen fragenden Blick zu, und der sagte:
«Blechdosen.»
«Woher wollen Sie wissen, dass sie die wirklich herstellen? Ich sage Ihnen, man darf sich nichts vormachen lassen. Gut, wenn sie keine Spionin war, wer war sie dann? Glauben Sie, sie hatte was mit einem meiner entzückenden Söhne? Wenn, dann Alfred. Harald ist für so was viel zu vorsichtig. Und Cedric lässt sich nicht dazu herab, in diesem Land zu leben. Gut, dann war sie also Alfreds Weibsbild. Und irgendein Hitzkopf folgt ihr hierher, weil er glaubt, sie will sich mit ihm treffen, und macht sie kalt. Was halten Sie davon?»
Inspector Craddock sagte diplomatisch, eine solche Theorie sei keinesfalls auszuschließen. Aber Mr. Alfred Crackenthorpe hätte die Frau nicht erkannt, sagte er.
«Pah! Angst, das ist alles! Alfred war schon immer ein Angsthase. Aber er ist ein Lügner, darf man nicht vergessen, war er schon immer. Der lügt, dass sich die Balken biegen. Keiner meiner Söhne taugt was. Die reinen Aasgeier, die bloß darauf warten, dass ich endlich abkratze, das ist ihr einziger Lebensinhalt.» Er lachte. «Aber die können warten, bis sie schwarz werden. Den Gefallen tu ich ihnen nie! Also, wenn Sie weiter keine Fragen haben… ich bin müde. Muss mich hinlegen.»
Er schlurfte wieder hinaus.
«Alfreds Weibsbild?», fragte Bacon. «Ich glaube, da will uns der alte Mann einen Bären aufbinden.» Er hielt zweifelnd inne. «Ich persönlich glaube, Alfred ist sauber – er hat es vielleicht faustdick hinter den Ohren, aber das geht uns im Augenblick nichts an. Nein, mich beschäftigt eher dieser Luftwaffenkerl.»
«Bryan Eastley?»
«Ja. Von der Sorte sind mir schon ein paar über den Weg gelaufen. Die treiben gewissermaßen haltlos durch die Welt – haben zu früh im Leben Gefahr, Tod und Abenteuer kennen gelernt. Jetzt kommt ihnen das Leben fad vor. Fad und unbefriedigend. In mancher Hinsicht haben wir sie schlecht behandelt. Obwohl ich nicht wüsste, was man dagegen tun könnte. Aber da stehen sie nun, voller Vergangenheit und ohne Zukunft. Dabei sind sie es, die Kopf und Kragen riskieren – der Durchschnittsmensch geht instinktiv auf Nummer sicher, weniger aus Moral als aus Vorsicht. Aber diese Hasardeure kennen keine Angst – auf Nummer sicher gehen ist für sie ein Fremdwort. Wenn Eastley wegen irgendwelcher Scherereien einer Frau nach dem Leben getrachtet hätte…» Er verstummte mit einer hilflosen Geste. «Aber warum hätte er sie umbringen wollen? Und wenn man eine Frau umbringt, warum deponiert man sie in einem Sarkophag des Schwiegervaters? Nein, wenn Sie mich fragen, hat keiner von denen etwas mit dem Mord zu tun. Wenn es einer von ihnen gewesen wäre, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, die Leiche quasi im eigenen Hinterhof zu deponieren.»
Craddock konnte sich das ebenfalls nicht zusammenreimen.
«Haben Sie hier noch zu tun?»
Craddock verneinte.
Bacon schlug vor, nach Brackhampton zu fahren und eine Tasse Tee zu trinken – aber Craddock sagte, er wolle noch eine alte Bekannte besuchen.
Zehntes Kapitel