«Warum?»
«Was Sie nicht alles wissen wollen! Weil er das schwarze Schaf der Familie ist. Der steht immerzu mit einem Fuß im Gefängnis. Im Krieg war er im Versorgungswesen, hat es aber unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen von einem Tag auf den anderen verlassen. Und danach kamen zweifelhafte Geschäfte mit Obstkonserven – und irgendein Ärger mit Eiern. Nie was Großes – aber er hat sich immer mit dubiosen Sachen durchlaviert.»
«Ist es nicht ziemlich unklug, das alles einer Fremden zu erzählen?»
«Warum? Sind Sie eine Polizeispionin?»
«Könnte doch sein.»
«Glaube ich aber nicht. Sie haben sich hier schon krumm und lahm geschuftet, bevor die Polizei uns Beachtung geschenkt hat. Ich glaube –»
Er verstummte, als seine Schwester Emma aus der Tür zum Küchengarten trat.
«Hallo, Em? Du siehst ja so verstört aus.»
«Das bin ich auch. Ich muss mit dir reden, Cedric.»
«Ich muss sowieso ins Haus zurück», sagte Lucy taktvoll.
«Bleiben Sie ruhig», sagte Cedric. «Der Mord hat Sie doch praktisch zum Familienmitglied gemacht.»
«Ich habe noch viel zu tun», sagte Lucy. «Ich wollte eigentlich nur etwas Petersilie holen.»
Sie räumte das Feld und ging in den Küchengarten. Cedrics Blick folgte ihr.
«Sieht gut aus, das Mädchen», sagte er. «Wer ist das eigentlich?»
«Oh, sie ist weit und breit bekannt», sagte Emma. «Sie ist eine Spezialistin für solche Arbeiten. Aber lassen wir Lucy Eyelesbarrow, Cedric. Ich mache mir schreckliche Sorgen. Bei der Polizei glaubt man offenbar, die Tote sei Ausländerin, vielleicht Französin. Cedric, glaubst du, das ist womöglich – Martine?»
Cedric starrte sie einen Augenblick verständnislos an.
«Martine? Wer um Himmels willen – ach, du meinst Martine!»
«Ja. Glaubst du –»
«Warum um Himmels willen sollte das denn Martine sein?»
«Nun, ihr Telegramm war doch seltsam, wenn man es sich recht überlegt. Das muss ungefähr zur selben Zeit gewesen sein… Glaubst du, sie könnte trotz allem hergekommen und –»
«Unsinn. Warum sollte Martine herkommen und sich in die Große Scheune verirren? Wozu? Ich halte das für höchst unwahrscheinlich.»
«Und du glaubst nicht, dass ich es lieber Inspector Bacon sagen sollte – oder dem anderen?»
«Was denn sagen?»
«Na ja – das mit Martine. Mit ihrem Brief.»
«Jetzt mach die Sache nicht noch komplizierter, Schwesterherz, indem du alle möglichen Belanglosigkeiten anschleppst, die mit der Sache nichts zu tun haben. Was den Brief von Martine angeht, war ich übrigens von Anfang an skeptisch.»
«Ich nicht.»
«Du hast auch schon immer gern die unmöglichsten Sachen für bare Münze genommen, altes Haus. Mein Ratschlag wäre, rühr dich nicht und gib keinen Mucks von dir. Soll die Polizei doch ihre kostbare Leiche identifizieren. Ich möchte wetten, Harold würde dir dasselbe raten.»
«Oh, das würde er bestimmt. Und Alfred auch. Aber ich mache mir Sorgen, Cedric, schreckliche Sorgen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.»
«Gar nichts», sagte Cedric prompt. «Du sagst keinen Ton, Emma. Wie heißt es so schön? Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.»
Emma Crackenthorpe seufzte. Sie ging langsam zum Haus zurück, und ihr Gewissen plagte sie.
Als sie die Auffahrt erreichte, trat Dr. Quimper aus dem Haus und öffnete die Tür seines verbeulten Austin. Er hielt inne, als er sie sah, dann ließ er den Wagen stehen und kam auf sie zu.
«So, Emma», sagte er. «Ihr Vater ist gesund und munter. Mord bekommt ihm. Er bringt seine Lebensgeister in Schwung. Müsste ich meinen Patienten öfter verordnen.»
Emma lächelte mechanisch. Dem Fachmann entging diese Reaktion keineswegs.
«Stimmt irgendetwas nicht?», fragte er.
Emma sah zu ihm auf. Sie vertraute der Güte und dem Mitgefühl des Arztes. Er war mehr als ein Arzt geworden, er war ein Freund, auf den sie sich verlassen konnte. Sein wohldosierter Sarkasmus täuschte sie nicht – sie kannte den weichen Kern unter der rauen Schale.
«Nein, ich mache mir Sorgen», gab sie zu.
«Möchten Sie es sich von der Seele reden? Sie müssen aber nicht.»
«Ich wäre froh, wenn ich es loswerden könnte. Das meiste wissen Sie eh schon. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.»
«Ich finde, dass Sie in Ihrem Urteil meist sehr sicher sind. Wo liegt das Problem?»
«Ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, was ich Ihnen von meinem Bruder erzählt habe – dem, der im Krieg gefallen ist.»
«Meinen Sie seine Heirat – oder den Heiratsplan – mit der Französin? War da nicht etwas in dieser Richtung?»
«Genau. Unmittelbar nachdem ich seinen Brief bekommen hatte, ist er gefallen. Wir haben von dem oder über das Mädchen nie wieder etwas gehört. Wir kennen eigentlich nur ihren Vornamen. Wir haben immer erwartet, sie würde schreiben oder plötzlich auftauchen, aber das war nie der Fall. Wir haben gar nichts gehört – bis vor etwa einem Monat, kurz vor Weihnachten.»
«Ich erinnere mich. Da haben Sie einen Brief bekommen, nicht wahr?»
«Ja. Sie schrieb, sie sei in England und würde uns gerne kennen lernen. Alles war vorbereitet, aber im letzten Moment kabelte sie, sie müsse unerwartet nach Frankreich zurück.»
«Und?»
«Die Polizei glaubt, die Frau, die hier umgebracht worden ist – sei Französin.»
«Tatsächlich? Ich fand, sie war eher ein englischer Typ, aber das kann man ja nie so genau sagen. Sie machen sich also Sorgen, die Tote könnte die Frau Ihres Bruders gewesen sein?»
«Ja.»
«Ich halte das für so gut wie ausgeschlossen», sagte Dr. Quimper, fügte aber hinzu: «Aber ich verstehe nur zu gut, wie Sie sich fühlen.»
«Ich frage mich, ob ich der Polizei nicht davon erzählen sollte – von der ganzen Sache. Cedric und die anderen halten das für unnötig. Was meinen Sie?»
«Hm.» Dr. Quimper spitzte die Lippen. Er schwieg eine Weile, tief in Gedanken. Dann sagte er fast widerstrebend: «Es ist natürlich viel einfacher, wenn Sie nichts sagen. Ich verstehe die Haltung Ihrer Brüder. Dennoch –»
«Ja?»
Quimper sah sie an. Er hatte einen fast zärtlichen Ausdruck in den Augen.