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Mehr war aus Madame Joilet nicht herauszubekommen.

Als sie ihr die Puderdose zeigten, meinte sie, Anna habe so eine gehabt, die meisten anderen Mädchen jedoch auch. Anna konnte in London einen Pelzmantel gekauft haben – sie wusste nichts davon. «Ich habe mit den Proben zu tun, mit der Bühnenbeleuchtung, mit all den Problemen meines Berufs. Ich habe keine Zeit, auf die Garderobe meiner Künstlerinnen zu achten.»

Nach Madame Joilet befragten sie die Mädchen, deren Namen sie von ihr bekommen hatten. Einige hatten Anna recht gut gekannt, aber sie alle sagten aus, sie habe wenig von sich preisgegeben, und dieses Wenige, sagte ein Mädchen, seien meist Lügen gewesen.

«Sie erzählte gern Geschichten – mal war sie die Maitresse eines Großherzogs gewesen – mal die eines einflussreichen englischen Finanziers – oder sie hatte im Krieg für die Resistance gearbeitet. In einer Geschichte war sie sogar ein Filmstar in Hollywood.»

Ein anderes Mädchen sagte aus:

«Ich glaube, in Wirklichkeit stammte sie aus ganz einfachen bürgerlichen Verhältnissen. Sie war gern beim Ballett, weil sie das romantisch fand, aber sie war keine gute Tänzerin. Sehen Sie, hätte sie zugeben müssen, ‹mein Vater war Textilkaufmann in Amiens›, dann hätte das nichts Romantisches gehabt! Also hat sie Dinge erfunden.»

«Selbst in London», sagte das erste Mädchen, «machte sie Anspielungen auf einen schwerreichen Mann, der sie auf eine Kreuzfahrt um die ganze Welt mitnehmen wollte, weil sie ihn an seine Tochter erinnerte, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Quelle blague!»

«Mir hat sie erzählt, sie wollte zu einem reichen Lord nach Schottland gehen», sagte das zweite Mädchen. «Sie hat gesagt, sie würde dort Hirsche schießen.»

All das half nicht weiter. Daraus ging lediglich hervor, dass Anna Strawinska eine begnadete Lügnerin war. Sie schoss bestimmt keine Hirsche mit einem schottischen Peer, und es war ähnlich unwahrscheinlich, dass sie auf dem Sonnendeck eines Kreuzfahrtschiffes lag und um die Welt segelte. Andererseits gab es auch keinen stichhaltigen Grund, warum ihre Leiche in einem Sarkophag in Rutherford Hall gefunden worden sein sollte. Ihre Identifizierung durch die Tänzerinnen und Madame Joilet war äußerst fragwürdig und zweifelhaft. Die Leiche hatte Ähnlichkeiten mit Anna, da waren sich alle einig. Aber alles was recht war! So aufgedunsen – das hätte jede sein können!

Fest stand nur, dass Anna Strawinska am 19. Dezember beschlossen hatte, nicht nach Frankreich zurückzukehren, und dass eine Frau, die ihr oberflächlich ähnlich sah, am 20. Dezember mit dem Zug um 16.33 nach Brackhampton gefahren und unterwegs erdrosselt worden war.

Wenn die Frau im Sarkophag nicht Anna Strawinska war, wo war diese dann?

Madame Joilets Antwort auf diese Frage war einfach und unvermeidlich.

«Bei einem Mann!»

Und wahrscheinlich war diese Antwort auch richtig, dachte Craddock und seufzte.

Einer anderen Möglichkeit musste er noch nachgehen – diese ergab sich aus der Bemerkung, Anna habe beiläufig einen englischen Ehemann erwähnt.

War dieser Ehemann Edmund Crackenthorpe gewesen?

Nach den Beschreibungen Annas durch ihre Bekannten schien das unwahrscheinlich. Weit eher war davon auszugehen, dass Anna das Mädchen Martine einst gut genug gekannt hatte, um alle erforderlichen Einzelheiten zu wissen. Es konnte Anna gewesen sein, die Emma Crackenthorpe den Brief geschrieben hatte, und wenn dem so war, dann konnte ihr bei dem Gedanken an mögliche Nachforschungen mulmig geworden sein. Vielleicht hatte sie es daher auch für klüger gehalten, ihre Verbindungen zum Ballet Maritski zu lösen. Wieder stellte sich dann die Frage, wo sie jetzt war.

Und wieder schien Madame Joilets Antwort unanfechtbar.

Bei einem Mann…

II

Bevor Craddock aus Paris abreiste, erörterte er mit Dessin die Frage der Frau namens Martine. Dessin war wie sein englischer Kollege der Auffassung, die Angelegenheit weise vermutlich keine Berührungspunkte mit der Toten im Sarkophag auf. Auch er war jedoch der Ansicht, man müsse dieser Frage nachgehen.

Er versicherte Craddock, die Sûreté werde alles tun, um etwa vorhandene Unterlagen einer Eheschließung zwischen Lieutenant Edmund Crackenthorpe vom 4. Southshire Regiment und einer Französin mit dem Vornamen Martine beizubringen. Zeitpunkt – unmittelbar vor dem Fall Dünkirchens.

Er machte Craddock jedoch darauf aufmerksam, dass eine eindeutige Antwort kaum zu erwarten sei. Nicht nur war die betreffende Gegend Frankreichs damals unter deutsche Besatzung geraten, sondern hatte auch während der nachfolgenden Invasion schwerwiegende Kriegsschäden davongetragen. Zahllose Bauten und Archive waren zerstört worden.

«Aber seien Sie versichert, lieber Kollege, dass wir alles tun werden, was in unserer Macht steht.»

Damit verabschiedeten sich die beiden voneinander.

III

Craddock wurde bei seiner Rückkehr von Sergeant Wetherall erwartet, der mit einer Art finsteren Behagens berichtete:

«Gästezimmer, Sir – das steckt hinter der Adresse 126 Elvers Crescent. Die Pension hat einen ganz guten Ruf.»

«Ergebnisse bei der Identifizierung?»

«Nein, niemand hat auf der Fotografie eine Frau erkannt, die dort ihre Post hätte lagern lassen, aber das ist auch kein Wunder – es ist knapp einen Monat her, und dort gehen viele Menschen ein und aus. Die Pension wird hauptsächlich von Studenten bewohnt.»

«Sie könnte unter anderem Namen abgestiegen sein.»

«Aber niemand hat die Frau auf der Fotografie erkannt.»

Er fügte hinzu:

«Wir haben den Hotels ein Rundschreiben geschickt – nirgends hat sich eine Martine Crackenthorpe eingeschrieben. Nach Ihrem Anruf aus Paris sind wir dem Namen Anna Strawinska nachgegangen. Sie hat wie auch andere Ensemblemitglieder ein Zimmer in einem billigen Hotel in der Nähe von Brook Green gebucht. Da steigen viele Theaterleute ab. Dort ist sie nach der Vorstellung am Donnerstag, dem 19. Dezember, verschwunden. Keine weiteren Anhaltspunkte.»

Craddock nickte. Er schlug eine neue Ermittlungsrichtung vor – versprach sich aber nicht viel davon.

Nach einigem Nachdenken rief er die Kanzlei Wimborne, Henderson & Carstairs an und bat um einen Termin mit Mr. Wimborne.

Zur vereinbarten Zeit wurde er in ein ungewöhnlich stickiges Zimmer geführt, wo Mr. Wimborne hinter einem großen, altmodischen Schreibtisch saß, der mit staubigen Papierstößen bedeckt war. Verschiedene Dokumentenkästen mit Aufschriften wie Sir John ffouldes, Nachlass, Lady Derrin, George Rowbottom, Esq. zierten die Wände; ob als Relikte einer versunkenen Epoche oder als Teil noch laufender Verfahren, konnte der Inspector nicht erkennen.

Mr. Wimborne musterte seinen Besucher mit der höflichen Zurückhaltung, die jedem Familienanwalt der Polizei gegenüber eigen ist.

«Was kann ich für Sie tun, Inspector?»

«Dieser Brief…» Craddock schob Martines Brief über die Tischplatte. Mr. Wimborne berührte ihn angewidert, nahm ihn jedoch nicht in die Hand. Er verfärbte sich eine Spur und presste die Lippen aufeinander.

«Ganz recht», sagte er, «ganz recht! Ich habe gestern Morgen einen Brief von Miss Emma Crackenthorpe erhalten, der mich über ihren Besuch bei Scotland Yard und all die – ähm – anderen Umstände in Kenntnis gesetzt hat. Es ist mir schleierhaft, absolut schleierhaft, warum man mich bei Eintreffen dieses Briefes nicht unverzüglich konsultiert hat! Äußerst ungewöhnlich! Man hätte mich sofort informieren müssen…»