Natürlich! Craddock wurde endlich klar, warum ihm Alfreds Gesicht von Anfang an bekannt vorgekommen war. Es waren immer Bagatelldelikte gewesen – nichts hatte sich je beweisen lassen. Alfred hatte sich immer am Rande der dunklen Geschäfte gehalten und stets plausibel begründen können, warum er überhaupt in diese Gaunereien hineingezogen worden war. Bei der Polizei war man jedoch ziemlich sicher gewesen, dass er immer einen kleinen, aber stetigen Gewinn daraus gezogen hatte.
«Das rückt die Sache allerdings in ein anderes Licht», sagte Craddock.
«Glauben Sie, er war’s?»
«Ich würde nicht sagen, dass er der Typ ist, der zum Mörder wird. Aber es erklärt andere Dinge – den Grund, warum er kein Alibi beibringen konnte.»
«Ja, das war verdächtig.»
«Nicht unbedingt», sagte Craddock. «Es kann auch ein kluger Schachzug sein – man behauptet einfach steif und fest, dass man sich nicht erinnern kann. Viele Menschen können sich nicht mal daran erinnern, wo sie vor einer Woche waren und was sie da getan haben. Besonders zupass kommt es einem natürlich, wenn man keine Aufmerksamkeit darauf lenken möchte, womit man seine Zeit zubringt – wenn man beispielsweise interessante Rendezvous mit Dicky Rogers’ Mob auf Lasterparkplätzen abhält.»
«Dann glauben Sie also, dass er sauber ist?»
«Im Augenblick glaube ich überhaupt noch nichts», sagte Inspector Craddock. «Sie müssen sich erst mal dahinter klemmen, Wetherall.»
Als Craddock wieder an seinem Schreibtisch saß, legte er die Stirn in Falten und machte sich auf einem kleinen Block Notizen.
Mörder (schrieb er)… ein großer dunkler Mann!!!
Opfer?… möglicherweise Martine, Edmund Crackenthorpes Freundin oder Witwe
oder
Anna Strawinska. Ist zur selben Zeit sang- und klanglos verschwunden, entspricht der Toten in Alter, Aussehen, Garderobe usw. Keine bisher bekannte Verbindung zu Rutherford Hall.
Könnte Harolds erste Frau sein! Bigamie!
Geliebte sein. Erpressung!
Wenn Verbindung zu Alfred, möglicherweise ebenfalls Erpressung im Spiel. Wusste sie etwas, das ihn ins Gefängnis geschickt hätte?
Wenn Cedric – könnten die Verbindungen ins Ausland weisen – Paris? Balearen?
oder
Opfer könnte Anna S. sein, die sich als Martine ausgegeben hat
oder
das Opfer ist eine Unbekannte, die von einem Unbekannten ermordet worden ist!
«Und wahrscheinlich stimmt das Letzte», sagte Craddock laut.
Er kam ins Brüten. Solange das Motiv unbekannt war, tappte man bei so einem Fall im Dunkeln. Alle bisher formulierten Motive waren entweder unzureichend oder weit hergeholt.
Wenn es doch bloß um den Mord am alten Mr. Crackenthorpe gegangen wäre… da hätte es jede Menge Motive gegeben…
Etwas regte sich in seinem Gedächtnis…
Er machte sich weitere Notizen auf dem Block.
Dr. Q. nach der Krankheit zu Weihnachten fragen.
Cedric – Alibi.
Miss Marple nach dem neuesten Klatsch fragen.
Sechzehntes Kapitel
Als Craddock in die Madison Road kam, traf er Lucy Eyelesbarrow bei Miss Marple an.
Zunächst wollte er seine Taktik ändern, sagte sich aber, dass sich Lucy als wertvolle Verbündete erweisen könne.
Nach der Begrüßung zog er mit gemessenen Bewegungen seine Brieftasche heraus, entnahm ihr drei Pfundnoten, legte drei Shillings dazu und schob sie Miss Marple über den Tisch.
«Was ist das, Inspector?»
«Beratungshonorar. Sie sind meine Beraterin – in einem Mordfall! Puls, Temperatur, unmittelbare Auswirkungen, mögliche tief sitzende Ursache besagten Mordes. Ich bin nur der überarbeitete Allgemeinpraktiker vor Ort.»
Miss Marple sah ihn an und zwinkerte. Er grinste sie an. Lucy Eyelesbarrow stieß einen erstickten Schrei aus und lachte dann.
«Aber Inspector Craddock – Sie bekommen ja menschliche Züge.»
«Nun ja, ich bin heute Nachmittag nur halb im Dienst.»
«Ich sagte Ihnen doch, dass wir uns bereits kennen», meinte Miss Marple zu Lucy. «Sein Patenonkel Sir Henry Clithering ist ein guter alter Freund von mir.»
«Miss Eyelesbarrow, möchten Sie wissen, was mein Patenonkel über Miss Marple sagte, als wir uns das erste Mal gesehen haben? Er beschrieb sie als den schlechthin besten Detektiv, den Gott je erschaffen hätte – eine angeborene Genialität, die den idealen Nährboden gefunden hätte. Er sagte, man dürfe –» Dermot Craddock stockte und suchte ein Synonym für «alte Schachteln» – «auf reifere Damen niemals herabschauen. Er meinte, in der Regel könnten sie einem sagen, was passiert sein könnte, was hätte passieren sollen und schlussendlich sogar, was tatsächlich passiert sei! Außerdem», fuhr er fort, «könnten sie einem verraten, warum es passierte. Er fügte hinzu, gerade diese – ähm – reifere Dame gehöre zu den Besten ihrer Art.»
«Alle Achtung!», sagte Lucy. «Das sind ja vorzügliche Referenzen.»
Miss Marple war rosig angelaufen und wirkte ungewöhnlich verwirrt.
«Der liebe Sir Henry», murmelte sie. «Immer so gütig. So klug bin ich nämlich gar nicht – ich habe bloß mein Scherflein Menschenkenntnis – wissen Sie, wenn man auf dem Dorf wohnt –»
Sie fand ihre Beherrschung wieder und fügte hinzu:
«Ich habe natürlich ein gewisses Handicap, weil ich nicht vor Ort sein kann. Ich finde es immer ungemein hilfreich, wenn die Menschen einen an andere Menschen erinnern – Menschentypen sind nun einmal überall gleich, und das ist eine unschätzbare Hilfe.»
Lucy schaute etwas perplex drein, aber Craddock nickte verständnisvoll.
«Aber Sie waren doch zum Tee dort, oder?», sagte er.
«Aber ja. Äußerst angenehm. Ich war enttäuscht, dass ich den alten Mr. Crackenthorpe nicht zu Gesicht bekommen habe – aber man kann nicht alles haben.»
«Wenn Sie den Menschen sähen, der den Mord begangen hat, glauben Sie, Sie würden ihn dann erkennen?», fragte Lucy.
«So weit möchte ich nicht gehen, Liebes. Man neigt immer zu Vermutungen, und Vermutungen können schrecklich in die Irre führen, wenn es um eine so ernsthafte Angelegenheit wie Mord geht. Man kann die Menschen, die betroffen sind – oder betroffen sein könnten – eigentlich nur beobachten und überlegen, an wen sie einen erinnern.»
«Wie bei Cedric und dem Filialleiter?»
Miss Marple berichtigte sie.
«Dem Sohn des Filialleiters, Liebes. Mr. Eade selbst glich vielmehr Mr. Harald – ein sehr konservativer Mann –, sah aber vielleicht zu sehr aufs Geld. Überdies ein Mann, der große Umwege machen konnte, um Skandalen aus dem Weg zu gehen.»
Craddock lächelte und sagte:
«Und Alfred?»
«Jenkins in der Autowerkstatt», antwortete Miss Marple wie aus der Pistole geschossen. «Er hat Werkzeuge vielleicht nicht mitgehen lassen, aber doch einen kaputten oder schadhaften Wagenheber gegen einen guten ausgetauscht. Und ich habe den Eindruck, bei Batterien war er auch nicht ganz ehrlich – obwohl ich mich bei solchen Dingen nicht auskenne. Ich weiß, dass Raymond eines Tages nicht mehr zu ihm gegangen ist, sondern zur Werkstatt in der Milchester Road. Und was Emma angeht», setzte sie gedankenverloren fort, «so erinnert sie mich ganz außerordentlich an Geraldine Webb – immer so still und ein wenig nachlässig gekleidet – und immer unter der Fuchtel ihrer alten Mutter. Welch eine Überraschung, als die Mutter unerwartet verstarb und Geraldine plötzlich ein kleines Vermögen ihr Eigen nennen konnte. Sie ließ sich die Haare schneiden und ondulieren, ging auf eine Kreuzfahrt, und als sie zurückkam, war sie mit einem sehr netten Rechtsanwalt verheiratet. Sie hatten zwei Kinder.»