Die Parallele war mit Händen zu greifen. Lucy sagte etwas unbehaglich: «Glauben Sie, es war gut, was Sie über Emmas Heiratschancen gesagt haben? Die Brüder kamen mir ziemlich bestürzt vor.»
Miss Marple nickte.
«Ja», sagte sie, «so sind die Männer – sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Allerdings ist es Ihnen vermutlich auch nicht aufgefallen.»
«Nein», räumte Lucy ein. «Ich hätte nie an so etwas gedacht. Beide kamen mir –»
«So alt vor?», sagte Miss Marple lächelnd. «Aber Dr. Quimper dürfte die vierzig noch nicht weit überschritten haben, auch wenn er an den Schläfen schon grau wird, und ganz offenkundig sehnt er sich nach Häuslichkeit; und Emma Crackenthorpe ist noch keine vierzig – nicht zu alt, um zu heiraten und eine Familie zu gründen. Die Frau des Arztes ist ganz jung im Kindbett verstorben, wenn ich recht verstanden habe.»
«Ich glaube, das stimmt. Emma hat neulich so etwas erwähnt.»
«Er muss einsam sein», sagte Miss Marple. «Ein fleißiger, viel beschäftigter Arzt braucht eine Frau an seiner Seite – eine verständnisvolle und nicht zu junge Frau.»
«Hören Sie, meine Beste», sagte Lucy, «ermitteln wir hier bei einem Verbrechen, oder betreiben wir Kuppelei?»
Miss Marple zwinkerte.
«Ich fürchte, ich bin unheilbar romantisch. Vielleicht weil ich eine alte Jungfer bin. Wissen Sie, liebe Lucy, soweit es mich betrifft, haben Sie Ihren Vertrag erfüllt. Wenn Sie vor Antritt Ihrer nächsten Stelle noch ins Ausland reisen wollen, hätten Sie jetzt noch Zeit.»
«Ich und Rutherford Hall verlassen? Niemals! Ich habe Blut geleckt. Bin fast so schlimm wie die Buben. Die verbringen ihre gesamte Zeit mit der Suche nach Beweisen. Gestern haben sie die Mülleimer durchwühlt. Richtig eklig – dabei haben sie gar keine Ahnung, wonach sie suchen sollen. Inspector Craddock, wenn sie plötzlich triumphierend mit einem Papierfetzen zu Ihnen kommen, auf dem steht ‹Martine – bleib der Großen Scheune fern, wenn dir dein Leben lieb ist!›, dann wissen Sie, dass ich mich ihrer erbarmt und den Zettel im Schweinestall versteckt habe!»
«Warum im Schweinestall, Liebes?», fragte Miss Marple neugierig. «Hält man dort Schweine?»
«O nein, längst nicht mehr. Aber – ich gehe da manchmal hin.»
Aus unerfindlichen Gründen wurde Lucy rot. Miss Marple betrachtete sie plötzlich mit anderen Augen.
«Wer ist momentan alles im Haus?», fragte Craddock.
«Cedric ist da, und Bryan bleibt übers Wochenende. Harold und Alfred kommen morgen. Sie haben heute vormittag angerufen. Sie müssen Öl ins Feuer gegossen haben, Inspector Craddock.»
Craddock lächelte.
«Ich habe sie ein bisschen aufgerüttelt. Habe sie gefragt, was sie am Freitag, den 20. Dezember, gemacht haben.»
«Und hatten sie Alibis?»
«Harold ja. Alfred nicht – vielleicht wollte er nicht.»
«Alibis müssen schrecklich schwierig sein», sagte Lucy. «Zeiten und Orte und Daten. Es muss doch auch schwer sein, so etwas nachzuprüfen.»
«Man braucht Zeit und Geduld – aber wir haben unsere Methoden.» Er sah auf die Uhr. «Ich fahre gleich nach Rutherford Hall, um mich mit Cedric zu unterhalten, aber vorher möchte ich noch Dr. Quimper auftreiben.»
«Das sollte möglich sein. Seine Sprechstunde beginnt um sechs, und um halb sieben ist er meistens fertig. Ich muss zurück und mich ans Abendessen machen.»
«Ich wollte Sie noch nach Ihrer Meinung fragen, Miss Eyelesbarrow. Wie hat man eigentlich im engsten Familienkreis auf die Angelegenheit mit Martine reagiert?»
Lucy antwortete ohne zu zögern.
«Alle sind wütend auf Emma, weil sie damit zu Ihnen gegangen ist – und auf Dr. Quimper, der sie angestiftet haben soll. Harold und Alfred glauben, es sei ein Versuchsballon gewesen, und halten alles für einen Schwindel. Emma ist sich nicht sicher. Cedric hält es zwar ebenfalls für Lug und Trug, nimmt es aber nicht so ernst wie die beiden anderen. Bryan scheint dagegen überzeugt zu sein, dass es sich um die echte Martine handelt.»
«Warum wohl?»
«Ach, Bryan ist einfach so. Er nimmt alles für bare Münze. Er glaubt, es sei Edmunds Frau – beziehungsweise Witwe – gewesen, die plötzlich nach Frankreich zurück musste, aber wieder von sich hören lassen wird. Dass sie weder geschrieben noch sich auf andere Weise gemeldet hat, findet er ganz normal, weil er auch nie Briefe schreibt. Bryan ist ein zutraulicher Kerl. Wie ein Hund, der ausgeführt werden will.»
«Und führen Sie ihn aus, Liebes?», fragte Miss Marple. «Vielleicht zu den Schweineställen?»
Lucy warf ihr einen durchdringenden Blick zu.
«Wo doch so viele Gentlemen im Haus ein und aus gehen», sinnierte Miss Marple.
Wenn Miss Marple das Wort «Gentlemen» aussprach, hatte es immer seinen ganzen viktorianischen Beigeschmack – den Nachhall längst vergangener Zeiten. Man sah sofort schneidige, kräftige (und vermutlich schnurrbärtige) Männer vor sich, manchmal lasterhaft, aber immer Kavalier.
«Sie sind so ein hübsches Mädchen», setzte Miss Marple hinzu und musterte Lucy. «Ich könnte mir denken, dass Sie in Rutherford Hall im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, oder?»
Lucy wurde wieder rot. Erinnerungsfetzen gingen ihr durch den Kopf. Cedric, der an der Mauer des Schweinestalls lehnte. Bryan, der melancholisch auf dem Küchentisch saß. Alfred, dessen Finger die ihren berührten, als er ihr beim Einsammeln der Kaffeetassen half.
«Gentlemen», sagte Miss Marple und klang, als spräche sie von einer fremdartigen und gefährlichen Tierart, «sind in gewissen Eigenarten alle gleich – sogar wenn sie schon alt sind…»
«Aber meine Beste», rief Lucy. «Noch vor hundert Jahren hätte man Sie als Hexe verbrannt!»
Und sie erzählte die Geschichte vom unverbindlichen Heiratsantrag des alten Mr. Crackenthorpe.
«Um ehrlich zu sein», sagte Lucy, «alle haben mir auf die eine oder andere Art Avancen gemacht. Harold war sehr korrekt – eine finanziell vorteilhafte Stellung in der City. Ich glaube nicht, dass es an meinem attraktiven Äußeren liegt – sie müssen glauben, ich wüsste etwas.»
Sie lachte.
Inspector Craddock lachte jedoch nicht.
«Seien Sie bloß vorsichtig», sagte er. «Man könnte Sie umbringen, statt Ihnen Avancen zu machen.»
«Das wäre wahrscheinlich einfacher», bestätigte Lucy.
Dann erschauerte sie.
«Man vergisst das so leicht», sagte sie. «Die Buben haben so viel Spaß gehabt, dass man alles für ein Spiel halten möchte. Aber es ist kein Spiel.»
«Nein», sagte Miss Marple. «Mord ist kein Spiel.»
Sie schwieg einige Augenblicke, dann sagte sie:
«Müssen die Jungen nicht bald wieder in die Schule?»
«Doch, nächste Woche. Sie fahren morgen zu James Stoddart-West nach Hause und verbringen dort die letzten Ferientage.»
«Das ist gut», sagte Miss Marple ernst. «Es wäre schlimm, wenn etwas passierte, solange sie hier sind.»
«Dem alten Mr. Crackenthorpe, meinen Sie? Halten Sie ihn für das nächste Mordopfer?»
«O nein», sagte Miss Marple. «Ihm wird nichts passieren. Ich dachte eher an die Jungen.»
«Sie meinen Alexander.»
«Aber wie –»