«Und da haben wir ihn gefunden –»
«WEN gefunden?», unterbrach Craddock das Duett.
«Den Beweis. Denk dran, Stodders, erst Handschuhe anziehen.»
Wichtigtuerisch zog Stoddart-West in bester Krimimanier ein Paar ziemlich dreckiger Handschuhe an und holte eine Fototasche hervor. Mit den Handschuhen zog er äußerst vorsichtig einen schmutzigen und zerknitterten Briefumschlag heraus, den er mit einer übertriebenen Geste dem Inspector reichte.
Beide Jungen hielten vor Aufregung den Atem an.
Craddock nahm den Umschlag mit gebührendem Ernst entgegen. Er mochte die Jungen und war bereit, sich auf ihr Spiel einzulassen.
Der Brief war in der Post gewesen, es gab keinen Inhalt mehr, nur den aufgerissenen Umschlag – adressiert an Mrs. Martine Crackenthorpe, 126 Elvers Crescent Nr. 10.
«Sehen Sie?», flüsterte Alexander schwer atmend. «Das heißt, sie muss hier gewesen sein – Onkel Edmunds französische Frau, meine ich – die, um die das ganze Trara gemacht wird. Sie muss Tatsache hier gewesen sein und ihn irgendwo verloren haben. So sieht es doch aus, oder?»
Stoddart-West schaltete sich ein:
«Das sieht doch aus, als wäre sie die Ermordete – ich meine, finden Sie nicht auch, Sir, dass die Tote im Sarkophag einfach diese Martine gewesen sein muss?»
Sie warteten gespannt.
Craddock spielte die von ihm erwartete Rolle.
«Möglich, gut möglich», sagte er.
«Das ist doch wichtig, oder nicht?»
«Sie werden ihn doch nach Fingerabdrücken absuchen, oder, Inspector?»
«Selbstverständlich», sagte Craddock.
Stoddart-West seufzte tief.
«Kolossales Glück, was?», sagte er. «Und dann auch noch an unserem letzten Tag.»
«Letzter Tag?»
«Ja», sagte Alexander. «Morgen fahren wir zu Stodders nach Hause und bleiben da bis zum Ferienende. Stodders’ Leute haben ein tolles Haus – aus der Zeit von Queen Anne, nicht?»
«William und Mary», sagte Stoddart-West.
«Ich dachte, deine Mutter hätte gesagt –»
«Mom kommt aus Frankreich. Die hat doch gar keine Ahnung von englischer Architektur.»
«Aber dein Vater hat gesagt, erbaut worden wäre es –»
Craddock untersuchte den Umschlag.
Das hatte Lucy Eyelesbarrow schlau eingefädelt. Wie hatte sie bloß den Poststempel gefälscht? Er hielt ihn dicht vor die Augen, konnte im Halbdunkel jedoch nichts erkennen. Für die Jungen natürlich ein Riesenspaß, aber für ihn etwas peinlich. Daran hatte Lucy nicht gedacht, verflixt noch mal. Wenn der Umschlag echt war, machte das bestimmte Maßnahmen erforderlich. Dann…
Neben ihm wurde ein hochgelehrter Architekturdisput ausgefochten. Er stellte sich taub.
«Kommt, Jungs», sagte er, «gehen wir ins Haus. Ihr seid mir eine große Hilfe gewesen.»
Achtzehntes Kapitel
Die Jungen eskortierten Craddock durch die Hintertür ins Haus. Anscheinend nahmen sie immer diesen Weg. In der Küche war es hell und heiter. Lucy hatte sich eine große weiße Schürze umgebunden und rollte Teig aus. Bryan Eastley lehnte am Küchenschrank und betrachtete sie mit hündischer Ergebenheit. Mit einer Hand zwirbelte er sich den großen blonden Schnurrbart.
«Hallo, Dad», sagte Alexander freundlich. «Treibst du dich wieder hier herum?»
«Mir gefällt es hier», sagte Bryan und fügte hinzu: «Miss Eyelesbarrow hat nichts dagegen.»
«Nein, allerdings nicht», sagte Lucy. «Guten Abend, Inspector Craddock.»
«Ermitteln Sie jetzt in der Küche?», wollte Bryan wissen.
«Nicht ganz. Mr. Cedric Crackenthorpe ist noch da, oder?»
«Ja, Cedric ist noch da. Brauchen Sie ihn?»
«Ich würde ihn gern sprechen – ja, bitte.»
«Ich schaue mal nach, ob er im Haus ist», sagte Bryan. «Manchmal sitzt er um die Zeit im Dorfpub.»
Er stieß sich vom Küchenschrank ab.
«Vielen Dank», sagte Lucy. «Meine Hände sind voller Mehl, sonst würde ich ja gehen.»
«Was wird das denn?», fragte Stoddart-West neugierig.
«Pfirsichtorte.»
«Pfundig», sagte Stoddart-West.
«Gibt es bald Essen?», fragte Alexander.
«Nein.»
«Mannomann, hab ich einen Kohldampf.»
«In der Speisekammer steht noch der Rest Ingwerkuchen.»
Die Jungen liefen gleichzeitig los und prallten an der Tür zusammen.
«Sie essen wie die Heuschrecken», sagte Lucy.
«Herzlichen Glückwunsch», sagte Craddock.
«Wozu genau?»
«Ihrem Einfallsreichtum.»
«Wobei?»
Craddock wedelte mit der Fototasche, in der der Umschlag steckte.
«Hervorragende Arbeit», sagte er.
«Wovon reden Sie überhaupt?»
«Dem hier, meine Liebe – dem hier.» Er zog den Umschlag halb heraus.
Sie starrte ihn verständnislos an.
Craddock wurde plötzlich schwindelig.
«Haben Sie dieses Beweisstück nicht gefälscht und im Kesselraum versteckt, damit die Jungen es finden? Schnell, sagen Sie schon.»
«Ich verstehe nicht einmal, wovon Sie überhaupt reden», sagte Lucy. «Soll das heißen, Sie –»
Als Bryan zurückkam, schob Craddock die Fototasche hastig wieder in die Tasche.
«Cedric ist in der Bibliothek», sagte Bryan. «Gehen Sie ruhig.»
Er nahm seinen Platz am Küchenschrank wieder ein. Inspector Craddock ging in die Bibliothek.
Cedric Crackenthorpe schien erfreut, den Inspector zu sehen.
«Na, wieder am Ermitteln?», fragte er. «Sind Sie schon weitergekommen?»
«Ich darf wohl sagen, dass wir ein Stück weitergekommen sind, Mr. Crackenthorpe.»
«Haben Sie herausbekommen, wer die Leiche war?»
«Sie ist noch nicht eindeutig identifiziert worden, aber wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung.»
«Schön für Sie.»
«Infolge unserer neusten Informationen brauchen wir noch ein paar Aussagen. Ich fange bei Ihnen an, Mr. Crackenthorpe, weil Sie gerade da sind.»
«Aber nicht mehr lange. Morgen oder übermorgen fliege ich nach Ibiza zurück.»
«Dann komme ich ja gerade noch rechtzeitig.»
«Schießen Sie los.»
«Ich hätte gern eine lückenlose Aufstellung, wo Sie am Freitag, den 20. Dezember, waren und was genau Sie getan haben.»
Cedric warf ihm einen kurzen Blick zu. Dann lehnte er sich zurück, gähnte, mimte große Nonchalance und verlor sich in den Mühen des Erinnerns.
«Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, war ich auf Ibiza. Dummerweise gleicht dort ein Tag dem anderen. Morgens wird gemalt, von drei bis fünf Siesta gehalten, dann ein bisschen skizziert, wenn das Licht mitspielt. Anschließend ein Aperitif im Café an der Piazza, mal mit dem Bürgermeister, mal mit dem Arzt. Danach ein kleiner Imbiss. Die Abende verbringe ich meistens in Scotty’s Bar mit Freunden aus der Unterschicht. Genügt Ihnen das?»
«Die Wahrheit wäre mir lieber, Mr. Crackenthorpe.»
Cedric setzte sich auf.
«Ich verbitte mir solche Beleidigungen, Inspector.»
«Beleidigungen? Mr. Crackenthorpe, neulich sagten Sie, Sie hätten Ibiza am 21. Dezember verlassen und seien am selben Tag in England eingetroffen.»
«Ganz recht. Em? Hi, Em!»
Emma Crackenthorpe kam durch die Tür, die die Bibliothek mit dem Frühstückszimmer verband. Sie sah fragend zwischen Cedric und dem Inspector hin und her.
«Hör zu, Em. Ich bin doch am Samstag vor Weihnachten hier angekommen, oder? Und direkt vom Flughafen, stimmt’s?»
«Ja», sagte Emma verwundert. «Du warst ungefähr zum Mittagessen da.»