Er sprach mit ehrfürchtiger Stimme.
«Die ganzen Ferien waren eigentlich klasse», fügte er glücklich hinzu. «Ich glaube nicht, dass ich so etwas noch einmal erlebe.»
«Ich hoffe, dass ich es nicht noch einmal erlebe», sagte Lucy, die vor Alexanders Koffer kniete und seine Sachen packte. «Willst du alle diese Zukunftsromane mitnehmen?»
«Nein, die beiden ganz oben nicht. Die kenne ich schon. Den Fußball, meine Fußballschuhe und die Gummistiefel kann ich extra nehmen.»
«Ihr Jungen nehmt ganz schön sperrige Sachen mit, wenn ihr auf Reisen geht.»
«Das macht nichts. Wir werden mit dem Rolls abgeholt. Sie haben einen klasse Rolls. Und so einen neuen Mercedes-Benz haben sie auch.»
«Da müssen sie ja reich sein.»
«Stinkreich! Aber auch mächtig nett. Trotzdem würde ich viel lieber hier bleiben. Wenn nun noch eine Leiche auftaucht.»
«Danke, kein Bedarf.»
«In Büchern ist das aber oft so. Wenn da jemand etwas gesehen oder gehört hat, wird der auch kaltgemacht. Vielleicht sind Sie das sogar», sagte er und wickelte einen zweiten Schokoriegel aus.
«Na, herzlichen Dank!»
«Ich wünsche es Ihnen ja nicht», versicherte Alexander ihr. «Ich mag Sie sehr und Stodders auch. Wir finden, als Köchin sind Sie einfach phantastisch. Ihre Fressalien sind einsame Spitze. Außerdem sind Sie echt vernünftig.»
Das Letzte war eindeutig ein Ausdruck höchsten Lobes. Lucy verstand es auch so und sagte: «Danke. Aber ich habe trotzdem keine Lust, mich umbringen zu lassen, bloß um dir einen Gefallen zu tun.»
«Na, dann sehen Sie sich lieber vor», schärfte Alexander ihr ein.
Nachdem er sich gestärkt hatte, sagte er mit einer gewissen Lässigkeit:
«Wenn Dad ab und zu vorbeikommt, dann kümmern Sie sich doch um ihn, oder?»
«Ja, natürlich», sagte Lucy leicht überrascht.
«Das Problem mit Dad ist nämlich, London bekommt ihm nicht», erklärte Alexander. «Er gerät immer an die falschen Frauen, wissen Sie.» Er schüttelte besorgt den Kopf.
«Ich mag ihn sehr», sagte er dann, «aber er braucht einen Menschen, der sich um ihn kümmert. Er lässt sich treiben und gerät an die falschen Leute. Es ist jammerschade, dass Mom so früh gestorben ist. Bryan braucht ein richtiges Zuhause.»
Er sah Lucy bedeutungsvoll an und griff nach dem nächsten Schokoriegel.
«Nein, drei sind genug, Alexander», bat Lucy. «Am Ende musst du noch spucken.»
«Das glaube ich nicht. Einmal habe ich sechs gegessen, und da ist mir auch nicht schlecht geworden. So leicht muss ich nicht spucken.» Nach einer Pause fuhr er fort:
«Bryan mag Sie, wissen Sie.»
«Das ist sehr nett von ihm.»
«Er ist in mancher Hinsicht ein Esel», sagte Bryans Sohn, «aber er war ein mächtig guter Kampfflieger. Er ist fürchterlich tapfer. Und er ist fürchterlich gutmütig.»
Er verstummte. Dann richtete er die Augen zur Decke und druckste herum:
«Wissen Sie, ich glaube… also eigentlich… jedenfalls wäre es gut, wenn er wieder heiraten würde… eine anständige Frau… ich persönlich hätte auch nichts gegen eine Stiefmutter… jedenfalls nicht, wenn sie eine anständige Frau wäre…»
Lucy begriff schockiert, worauf Alexander hinauswollte.
«Dieser ganze Stiefmutterquark», fuhr Alexander, immer noch zur Decke gewandt, fort, «ist in Wahrheit doch ein alter Hut. Stodders und ich kennen phänomenal viele Jungen mit Stiefmüttern – durch Scheidung und so –, und die kommen prima miteinander klar. Kommt natürlich auf die Stiefmutter an. Und natürlich ist es immer etwas verwirrend, wenn sie mit einem ausgeht oder beim Sportfest oder so. Ich meine, wenn man zwei Paar Eltern hat. Andererseits hilft es, wenn man Geld braucht!» Er stockte und dachte über die Probleme des modernen Lebens nach. «Am besten ist es, wenn man sein eigenes Zuhause und seine eigenen Eltern hat – aber wenn die Mutter nun mal tot ist – verstehen Sie, was ich meine? Hauptsache, sie ist eine anständige Frau», sagte Alexander zum dritten Mal.
Lucy war gerührt.
«Ich glaube, du bist sehr vernünftig, Alexander», sagte sie. «Wir müssen versuchen, eine gute Frau für deinen Vater zu finden.»
«Genau», sagte Alexander unverbindlich.
Dann fügte er noch lässig hinzu:
«Ich dachte, ich bringe es mal zur Sprache. Bryan mag Sie sehr. Hat er selbst gesagt…»
«Also wirklich», dachte Lucy. «Hier laufen zu viele Kuppler herum. Erst Miss Marple und jetzt Alexander!»
Aus irgendwelchen Gründen musste sie an Schweineställe denken.
Sie stand auf.
«Gute Nacht, Alexander. Du brauchst morgen früh nur noch den Kulturbeutel und den Schlafanzug einzupacken. Gute Nacht.»
«Gute Nacht», sagte Alexander. Er glitt unter die Decke, legte den Kopf aufs Kissen, schloss die Augen, gab das vollkommene Ebenbild eines schlafenden Engels ab und war im Nu eingeschlafen.
Neunzehntes Kapitel
«Lückenlos kann man das nicht gerade nennen», sagte Sergeant Wetherall gewohnt düster.
Craddock las den Bericht über Harald Crackenthorpes Alibi für den 20. Dezember.
Er war gegen halb vier bei Sotheby’s gesehen worden, sollte aber kurz darauf gegangen sein. In Russells Teestube war seine Fotografie nicht erkannt worden, aber da dort zur Teezeit viel Betrieb herrschte und er kein Stammgast war, war das nicht weiter verwunderlich. Sein Diener bestätigte, er sei nach Cardigan Gardens zurückgekehrt, um sich um Viertel vor sieben für das Souper umzukleiden – verhältnismäßig spät, denn das Essen war für halb acht angesetzt, und Mr. Crackenthorpe war daher recht gereizt gewesen. Der Diener hatte ihn nachts wohl nicht heimkommen gehört, aber da der Tag geraume Zeit zurücklag, konnte er sich nicht genau erinnern, und er hörte Mr. Crackenthorpe ohnehin nicht immer heimkommen. Seine Frau und er zogen sich nach Möglichkeit früh zurück. Haralds Garage bei den Kutscherhäuschen war ein gemieteter Privatstellplatz, und es gab niemanden, der das Kommen und Gehen verfolgte oder Grund hatte, sich an einen bestimmten Abend zu erinnern.
«Alles negativ», seufzte Craddock.
«Beim Souper in der Caterer’s Hall war er allerdings, ist aber noch vor Ende der Ansprachen gegangen.»
«Haben Sie an den Bahnhöfen etwas herausgefunden?»
Dort hatte sich nichts ergeben, weder in Brackhampton noch in Paddington. All das war vier Wochen her, und es war von vornherein unwahrscheinlich gewesen, dass sich jemand erinnern würde.
Craddock seufzte wieder und griff nach dem Rapport über Cedric. Auch hier kein Ergebnis, bis auf einen Taxifahrer, der sich undeutlich erinnerte, irgendwann am Nachmittag jenes Tages einen Fahrgast nach Paddington gebracht zu haben, «der dem Burschen da ähnlich sah. Dreckige Hosen und strubbelige Haare. Schimpfte und fluchte, weil die Fahrpreise gestiegen wären, seit er das letzte Mal in England war.» An den Tag konnte er sich genau erinnern, weil da ein Pferd namens Crawler das Rennen um halb drei gewonnen hatte, auf das er ein bisschen was gesetzt hatte. Nach Absetzen des Gentleman hatte er es im Taxi im Radio gehört und war spornstreichs nach Hause gefahren, um zu feiern.
«Gott sei Dank gibt es Pferderennen!», sagte Craddock und legte den Rapport beiseite.
«Hier ist der über Alfred», sagte Sergeant Wetherall.
Etwas in seiner Stimme ließ Craddock aufblicken. Wetherall bot den zufriedenen Anblick eines Menschen, der sich den Leckerbissen bis zuletzt aufgespart hat.