Im Großen und Ganzen war die Überprüfung unbefriedigend. Alfred wohnte allein in seiner Wohnung und kam und ging zu unregelmäßigen Zeiten. Seine Nachbarn waren nicht sonderlich neugierig, außerdem arbeiteten sie als Büroangestellte und waren den ganzen Tag außer Haus. Dann aber deutete Wetheralls Finger bedeutsam auf den letzten Absatz des Berichts.
Sergeant Leakie war auf einen Fall von Diebstählen aus Lastern angesetzt worden und am Load of Bricks in Stellung gegangen, einem LKW-Rastplatz an der Waddington-Brackhampton Road, wo er gewisse LKW-Fahrer observiert hatte. Am Nachbartisch war ihm Chick Evans aufgefallen, der zu Dicky Rogers’ Mob gehörte. Bei dem hatte Alfred Crackenthorpe gesessen, den Leakie flüchtig kannte, seit er im Prozess gegen Dicky Rogers ausgesagt hatte. Er hatte sich gefragt, was die beiden wohl ausheckten. Das war am Freitag, den 20. Dezember, um 21.30 gewesen. Ein paar Minuten später war Alfred Crackenthorpe in einen Bus Richtung Brackhampton gestiegen. William Baker, der Bahnsteigschaffner in Brackhampton, hatte kurz vor Abfahrt des 23.55 nach Paddington die Fahrkarte eines Gentleman geknipst, den er als einen von Miss Crackenthorpes Brüdern erkannt hatte. Erinnerte sich an den Tag, weil da die Geschichte einer übergeschnappten alten Dame kursiert war, die Stein und Bein geschworen hatte, sie hätte gesehen, wie am Nachmittag im Zug jemand ermordet worden wäre.
«Alfred?», sagte Craddock und legte den Bericht hin. «Alfred? Komisch.»
«Damit steckt er in Teufels Küche», meinte Wetherall.
Craddock nickte. Ja, Alfred konnte mit dem Zug um 16.33 nach Brackhampton gefahren sein und unterwegs einen Mord begangen haben. Danach konnte er mit dem Bus zum Load of Bricks gefahren sein. Dort konnte er um halb zehn aufgebrochen sein und hätte genügend Zeit gehabt, nach Rutherford Hall zu fahren, die Leiche vom Bahndamm in den Sarkophag zu verfrachten und rechtzeitig wieder in Brackhampton zu sein, um mit dem 23.55 nach London zurückzufahren. Ein Mitglied von Dicky Rogers’ Mob konnte ihm bei der Beseitigung der Leiche sogar geholfen haben, obwohl Craddock es bezweifelte. Das waren lichtscheue Elemente, aber keine Mörder.
«Alfred?», wiederholte er grübelnd.
In Rutherford Hall hatte eine Versammlung der Familie Crackenthorpe stattgefunden. Harold und Alfred waren aus London gekommen, ein Wort gab das andere, und schon bald kochten die Emotionen hoch.
Lucy mischte aus eigenem Antrieb Cocktails in einem Krug mit Eiswürfeln und brachte ihn zur Bibliothek. Die Stimmen waren in der Halle deutlich zu hören. Allerlei Gehässigkeiten entluden sich über Emma.
«Alles nur deine Schuld, Emma.» Harolds wütende Bassstimme war deutlich herauszuhören. «Es will mir nicht in den Kopf, wie du so kurzsichtig und dumm sein konntest. Hättest du doch bloß diesen Brief nicht zu Scotland Yard gebracht, dann wäre das alles nicht ins Rollen gekommen –»
Alfreds hohe Stimme sagte: «Du musst von Sinnen gewesen sein.»
«Nun lasst Emma doch mal in Ruhe», sagte Cedric. «Was passiert ist, ist passiert. Es wäre viel verdächtiger, wenn sie die Leiche als die verschwundene Martine identifiziert hätten, und wir hätten mit keinem Sterbenswörtchen zu erkennen gegeben, dass wir von ihr gehört hatten.»
«Du magst ja fein raus sein, Cedric», sagte Harold zornig. «Du warst am 20. außer Landes, und das ist anscheinend der Tag, auf den sich die Ermittlungen konzentrieren. Aber für Alfred und mich ist das äußerst peinlich. Zum Glück kann ich mich erinnern, wo ich an jenem Nachmittag war und was ich gemacht habe.»
«Das kann ich mir denken», sagte Alfred. «Wenn du einen Mord planen würdest, würdest du garantiert auch dein Alibi sehr sorgfältig planen, Harold.»
«Ich schätze, du hast da weniger Glück», sagte Harold kalt.
«Wie man’s nimmt», sagte Alfred. «Nichts ist schlimmer, als wenn man der Polizei ein hieb- und stichfestes Alibi unterjubeln will, das sich als nicht hieb- und stichfest erweist. Das zerpflücken sie einem in null Komma nichts.»
«Wenn du damit andeuten willst, ich hätte die Frau umgebracht –»
«Ach, nun hört doch endlich mal auf», rief Emma. «Natürlich hat keiner von euch die Frau umgebracht.»
«Und nur zu eurer Information, ich war am 20. nicht im Ausland», sagte Cedric. «Und die Polizei ist dahinter gekommen. Wir stehen also alle unter Verdacht.»
«Wenn Emma nicht gewesen wäre –»
«Nun fang doch nicht wieder von vorn an, Harold», rief Emma.
Dr. Quimper kam aus dem Arbeitszimmer, wohin er sich mit dem alten Mr. Crackenthorpe zurückgezogen hatte. Sein Blick fiel auf den Krug in Lucys Hand.
«Was ist denn das? Gibt es etwas zu feiern?»
«Das ist eher Öl auf die Wogen. Da drinnen fliegen die Fetzen.»
«Beschuldigungen?»
«Hauptsächlich hacken sie auf Emma rum.»
Dr. Quimper zog die Augenbrauen hoch.
«Ach ja?» Er nahm Lucy den Krug ab, öffnete die Tür zur Bibliothek und ging hinein.
«Guten Abend.»
«Ah, Dr. Quimper, ich hätte noch ein Wörtchen mit Ihnen zu reden.» Das war Harolds Stimme, laut und gereizt. «Ich wüsste gern, wie Sie dazu kommen, sich in private Familienangelegenheiten einzumischen und meiner Schwester nahe zu legen, sich an Scotland Yard zu wenden.»
Dr. Quimper sagte ruhig und bestimmt:
«Miss Crackenthorpe hat mich um Rat gebeten. Ich habe ihn ihr gegeben. Meiner Meinung nach hat sie das einzig Richtige getan.»
«Wollen Sie damit sagen –»
«Mädchen!»
Die inzwischen vertraute Anrede des alten Mr. Crackenthorpe. Er spähte direkt hinter Lucy aus der Tür des Arbeitszimmers.
Lucy drehte sich widerwillig um.
«Ja, Mr. Crackenthorpe?»
«Was gibt es heute zum Abendessen? Ich möchte Curry. Ihr Curry ist sehr gut. Es ist eine Ewigkeit her, seit wir das letzte Mal Curry gegessen haben.»
«Die Jungen mögen Curry nicht besonders, darum.»
«Die Jungen – die Jungen. Seit wann zählen hier die Jungen? Ich bin es, der zählt. Außerdem sind die Jungen verschwunden – und ich weine ihnen keine Träne nach. Ich will einen schönen scharfen Curry, haben Sie verstanden?»
«Ja, Mr. Crackenthorpe, Sie sollen ihn haben.»
«So ist’s recht. Sie sind ein gutes Mädchen, Lucy. Sie kümmern sich um mich, und ich kümmere mich um Sie.»
Lucy kehrte in die Küche zurück. Sie räumte die Zutaten für das geplante Hühnerfrikassee weg und begann mit den Vorbereitungen für einen Curry. Die Haustür schlug zu, und durch das Küchenfenster sah sie Dr. Quimper, der verärgert vom Haus zum Wagen ging und fortfuhr.
Lucy seufzte. Ihr fehlten die Jungen. Und irgendwie fehlte ihr auch Bryan.
Sei’s drum. Sie setzte sich und fing an, Pilze zu putzen.
Wenigstens würde sie der Familie ein gutes Essen kochen.
Fütterung der Raubtiere!
Gegen drei Uhr früh fuhr Dr. Quimper seinen Wagen in die Garage, schloss ab, ging todmüde ins Haus und zog die Eingangstür hinter sich ins Schloss. So, Mrs. Josh Simpkins konnte ihrer bisher achtköpfigen Familie ein gesundes Paar Zwillinge hinzufügen. Mr. Simpkins war über deren Ankunft nicht gerade in Begeisterungsstürme ausgebrochen.
«Zwillinge», hatte er bedrückt gesagt. «Was sind die denn gut für? Vierlinge, da lässt sich was mit anfangen. Kriegt man alle möglichen Sachen geschickt, die Presse rennt einem das Haus ein, man kommt mit Bild in die Zeitung, und es heißt, die Queen schickt einem sogar ein Telegramm. Aber Zwillinge? Muss man bloß zwei Mäuler mehr stopfen. In meiner Familie hat’s noch nie Zwillinge gegeben, und in der von meiner Alten auch nicht. Das ist doch einfach ungerecht.»