«Und dann würde Ihnen nichts auffallen.»
«Dass sie weniger als die anderen gegessen hätte? Wahrscheinlich nicht. Die Menschen reagieren auf Gift sowieso verschieden – dieselbe Dosis nimmt den einen weit mehr mit als den anderen.» Sarkastisch fügte der Arzt hinzu: «Wenn der Patient erst tot ist, lässt sich natürlich recht genau sagen, wie hoch die Dosis war.»
«Dann wäre es also möglich…»Inspector Bacon stockte, um seinen Einfall zu durchdenken. «Es wäre also möglich, dass sich ein Mitglied der Familie mehr anstellt als nötig – jemand quält sich ebenso ab wie die anderen, könnte man sagen, um sich nicht verdächtig zu machen. Das wäre möglich, ja?»
«Genau das habe ich mich auch gefragt. Deswegen bin ich ja zu Ihnen gekommen. Die Sache liegt jetzt bei Ihnen. Ich habe eine vertrauenswürdige Schwester nach Rutherford Hall abgestellt, aber sie kann nicht überall zugleich sein. Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendjemand eine lebensgefährliche Dosis abbekommen hat.»
«Heißt das, der Giftmischer hat einen Fehler gemacht?»
«Nein. Ich könnte mir eher denken, er hat nur so viel in den Curry getan, um den Eindruck einer Lebensmittelvergiftung zu erwecken – dafür würde man die Pilze verantwortlich machen. Die Leute glauben in solchen Fällen ja immer gleich an eine Pilzvergiftung. Und auf einmal verschlechtert sich der Zustand eines Patienten, und er stirbt.»
«Weil er eine zweite Dosis bekommen hat.»
Der Arzt nickte.
«Deswegen bin ich sofort zu Ihnen gekommen, und deswegen habe ich eine Schwester nach Rutherford Hall abgestellt.»
«Weiß sie von dem Arsen?»
«Natürlich. Sie weiß davon, und Miss Eyelesbarrow auch. Ich möchte Ihnen keinesfalls vorschreiben, was Sie zu tun haben, aber an Ihrer Stelle würde ich hinausfahren und allen klipp und klar sagen, dass sie eine Arsenvergiftung haben. Das sollte unseren potentiellen Giftmörder dermaßen in Angst und Schrecken versetzen, dass er von der Durchführung seines Plans absieht. Er baut wahrscheinlich voll und ganz auf die Theorie der Lebensmittelvergiftung.»
Auf dem Schreibtisch des Inspectors klingelte das Telefon. Bacon hob ab, lauschte kurz und sagte:
«Okay. Stellen Sie sie durch.» Er sagte zu Quimper. «Ihre Schwester. Ja, hallo – am Apparat… Wie bitte? Schwerer Rückfall… ja… Dr. Quimper steht neben mir… wenn Sie ihn sprechen möchten…»
Er reichte dem Arzt den Hörer.
«Quimper am Apparat… verstehe… aha… genau… ja, machen Sie damit weiter. Wir kommen sofort.»
Er legte auf und wandte sich an Bacon.
«Um wen geht’s?»
«Alfred», sagte Dr. Quimper. «Er ist tot.»
Zwanzigstes Kapitel
Craddocks Stimme drang ungläubig und scharf durchs Telefon.
«Alfred?», fragte er. «Alfred?»
Inspector Bacon wechselte den Telefonhörer ans andere Ohr und sagte: «Kommt das unerwartet für Sie?»
«Und wie. Er war gerade mein Hauptverdächtiger geworden!»
«Ich habe gehört, dass der Bahnsteigschaffner ihn wieder erkannt hat. Sah schlecht für ihn aus. Sah sogar so aus, als hätten wir unseren Mann.»
«Tja», sagte Craddock tonlos, «so kann man sich irren.»
Nach einer Pause fragte er:
«Da war doch eine Schwester abgestellt. Wie konnte ihr denn so ein Schnitzer unterlaufen?»
«Man kann ihr wohl kaum Vorwürfe machen. Miss Eyelesbarrow war vollkommen erledigt und hatte sich hingelegt. Die Schwester hatte fünf Patienten zu versorgen, den alten Mann, Emma, Cedric, Harold und Alfred. Sie konnte nicht überall zugleich sein. Erst hat anscheinend der alte Mr. Crackenthorpe einen Zwergenaufstand gemacht. Groß lamentiert, er müsse sterben. Sie ist zu ihm gegangen, konnte ihn beruhigen, ist zurückgekommen und hat Alfred Tee mit Traubenzucker gebracht. Er hat ihn getrunken, und schon war’s passiert.»
«Wieder Arsen?»
«Sieht ganz so aus. Es kann natürlich ein Rückfall gewesen sein, aber Quimper glaubt das nicht, und Johnstone ist seiner Meinung.»
«War Alfred wirklich das beabsichtigte Opfer?», überlegte Craddock.
Bacon klang interessiert. «Sie meinen, während Alfreds Tod niemandem nützt, hätte sich der Tod des alten Mannes für alle gelohnt? Es könnte ein Fehler gewesen sein – jemand könnte geglaubt haben, der Tee sei für den alten Mann bestimmt.»
«Steht überhaupt fest, dass das Zeug auf diese Weise verabreicht wurde?»
«Nein, ganz und gar nicht. Die Schwester hat, wie sich das für eine gute Schwester gehört, Geschirr und Besteck gespült. Tassen, Löffel, Kanne – alles. Aber es gibt kaum eine andere Möglichkeit.»
«Das heißt also, ein Patient war nicht so krank wie die anderen», grübelte Craddock. «Hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und die Tasse präpariert.»
«Jedenfalls ist jetzt Schluss mit diesen halben Sachen», sagte Inspector Bacon aufgebracht. «Wir haben jetzt zwei Schwestern auf die vier angesetzt, von Miss Eyelesbarrow ganz zu schweigen, und ich habe ein paar von meinen Männern in Rutherford Hall stationiert. Kommen Sie her?»
«So schnell ich kann!»
Lucy Eyelesbarrow kam durch die Halle geeilt und begrüßte Inspector Craddock. Sie sah blass und abgespannt aus.
«Sie haben aber auch einiges durchgemacht», sagte Craddock.
«Das Ganze war ein einziger scheußlicher Alptraum», sagte Lucy. «Letzte Nacht habe ich wirklich gedacht, sie würden alle sterben.»
«Was den Curry angeht –»
«Ach, der Curry war es also?»
«Ja, lecker mit Arsen gewürzt – die Borgias lassen grüßen.»
«Wenn das stimmt», sagte Lucy, «gibt es nur eine Möglichkeit: Es muss jemand aus der Familie sein.»
«Alles andere ausgeschlossen?»
«Ja. Schauen Sie, ich habe mit dem verdammten Curry erst spät angefangen – nach sechs Uhr – weil Mr. Crackenthorpe da erst Curry verlangt hat. Und ich musste eine neue Dose Currypulver aufmachen – die kann also niemand vergiftet haben. Ich nehme an, Curry überdeckt den Geschmack?»
«Arsen hat keinen Eigengeschmack», sagte Craddock geistesabwesend. «Jetzt zur Gelegenheit. Wer hatte überhaupt die Chance, während des Kochens an den Curry heranzukommen?»
Lucy überlegte.
«Als ich im Speisesaal den Tisch gedeckt habe, konnte im Grunde jeder in die Küche schleichen», sagte sie.
«Verstehe. Wer war denn alles im Haus? Der alte Mr. Crackenthorpe, Emma, Cedric –»
«Harold und Alfred. Sie waren am Nachmittag aus London gekommen. Ach ja, und Bryan – Bryan Eastley. Aber der ist kurz vor dem Essen gefahren. Er hatte eine Verabredung in Brackhampton.»
Craddock sagte nachdenklich: «Das passt alles zur Krankheit des Alten letzte Weihnachten. Quimper witterte damals schon Arsen. Hatten Sie letzte Nacht den Eindruck, alle wären gleich krank?»
Lucy überlegte. «Ich glaube, der alte Mr. Crackenthorpe war am schlimmsten dran. Dr. Quimper hatte wahnsinnig viel Arbeit mit ihm. Er ist ein ganz schön guter Arzt, möchte ich behaupten. Cedric hat sich bei weitem am meisten angestellt. Das ist allerdings typisch für starke und gesunde Menschen.»
«Und Emma?»
«Ihr ging es ziemlich schlecht.»