«Das glaube ich ganz und gar nicht», sagte Lucy.
«Na ja…» Bryan überlegte. «Vielleicht ein Geistlicher», sagte er zuversichtlich. «Sie könnte Gemeindearbeit machen und wäre die Richtige im Umgang mit dem Mütterbund. Ich meine doch den Mütterbund, oder? Ich weiß gar nicht, was sich dahinter verbirgt, aber man stößt in Büchern manchmal darauf. Und sie könnte am Sonntag in der Kirche einen Hut tragen», fügte er noch hinzu.
«Das sind ja reizende Aussichten», sagte Lucy, stand auf und griff nach ihrem Tablett.
«Kann ich Ihnen das tragen?», fragte Bryan und nahm ihr das Tablett ab. Sie gingen zusammen in die Küche. «Soll ich Ihnen beim Abwaschen helfen? Ich mag diese Küche», sagte er, «ich weiß, heutzutage wird nicht mehr so gebaut, aber mir gefällt das ganze Haus. Scheußlicher Geschmack, nehme ich an, aber so ist es nun mal. Im Park könnte man ohne weiteres mit dem Flugzeug landen», meinte er plötzlich hellauf begeistert.
Er griff nach einem Gläsertuch und fing an, Besteck abzutrocknen.
«Fast schon Vergeudung, dass alles an Cedric geht», sagte er. «Der hat das alles doch schwuppdiwupp verkauft und ist wieder ins Ausland verduftet. Ich verstehe ja nicht, wie man etwas gegen England haben kann. Harold würde das Haus auch nicht wollen, und für Emma ist es natürlich viel zu groß. Aber wenn es nun an Alexander fiele, könnten wir hier mopsfidel in den Tag hinein leben. Natürlich wäre es schön, wenn auch noch eine Frau im Haus wäre.» Er sah Lucy nachdenklich an. «Na, hat wohl keinen Sinn, Luftschlösser zu bauen. Die müssten ja alle erst sterben, damit Alexander das Haus kriegt, und das ist kaum anzunehmen, oder? So wie ich den alten Knaben einschätze, wird der ohne weiteres hundert Jahre alt, bloß um ihnen das Leben sauer zu machen. Ich könnte mir denken, dass Alfreds Tod ihn nicht gerade schwer getroffen hat, was?»
«Nein», sagte Lucy kurz angebunden.
«Giftiger alter Krauter», sagte Bryan Eastley fröhlich.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
«Fürchterlich, worüber sich die Leute das Maul zerreißen», sagte Mrs. Kidder. «Wissen Sie, ich höre da ja gar nicht zu, wenn ich es vermeiden kann. Aber es ist wirklich kaum zu glauben.» Sie wartete auf die Ermunterung weiterzureden.
«Ja, das kann ich mir denken», sagte Lucy.
«Bei der Leiche, die da in der Großen Scheune gefunden worden ist», fuhr Mrs. Kidder fort und scheuerte auf allen vieren rückwärts kriechend den Küchenboden, «da heißt es, die hätte im Krieg eine Liebschaft mit Mr. Edmund gehabt, und jetzt wär sie hergekommen, und ihr eifersüchtiger Mann wär ihr nach und hätt sie abgemurkst. Für einen Ausländer wär das ja wieder mal typisch, aber nach so vielen Jahren doch irgendwie komisch, was?»
«Ich finde es jedenfalls sehr unwahrscheinlich.»
«Aber das ist noch nicht alles», sagte Mrs. Kidder. «Die Leute erzählen sich ja die gemeinsten Lügen. Da bleibt einem die Spucke weg. Die erzählen, Mr. Harold hätte im Ausland geheiratet, und die Frau wär hergekommen und hätte rausgekriegt, dass er mit der Lady Alice Bigamerie gemacht hat, und wollte ihn vor Gericht bringen, und da hat er sie hier getroffen und sie abgemurkst und ihre Leiche in dem Sargkoffer versteckt. Da hört sich doch alles auf!»
«Schockierend», sagte Lucy geistesabwesend.
«Ich höre da natürlich gar nicht hin», sagte die tugendhafte Mrs. Kidder, «ich für mein Teil gebe ja nichts auf solchen Tratsch. Ich kapiere einfach nicht, wie sich Menschen solche Verleumdungen ausdenken und dann auch noch weitererzählen können. Ich hoffe ja bloß, dass Miss Emma nichts davon zu hören kriegt. Die würde sich sonst noch aufregen, und das wäre doch nicht schön. Das ist so eine nette Lady, die Miss Emma, und ich habe noch nie ein böses Wort über sie gehört, noch nie. Und seit Mr. Alfred tot ist, sagt gegen den natürlich auch keiner mehr was. Nicht mal, dass er seine gerechte Strafe empfangen hat, und das dürfte man sogar noch sagen. Aber finden Sie nicht auch, Miss, dass es schrecklich ist, was böse Zungen so reden?»
Sagte Mrs. Kidder voller Entzücken.
«Es muss sehr schmerzlich für Sie sein, das alles anzuhören», sagte Lucy.
«Aber ja», sagte Mrs. Kidder, «allerdings. Und ich sag noch zu meinem Mann, wo gibt’s denn so was, sag ich.»
Es klingelte.
«Das wird der Arzt sein, Miss. Wollen Sie ihm aufmachen, oder soll ich?»
«Ich gehe schon», sagte Lucy.
Aber es war nicht der Arzt. Auf der Schwelle stand eine große elegante Dame in einem Nerzmantel. Auf der Kiesauffahrt hielt ein schnurrender Rolls Royce mit einem Chauffeur hinter dem Lenkrad.
«Kann ich bitte Miss Emma Crackenthorpe sprechen?»
Sie hatte eine anziehende Stimme mit leicht gerollten Rs. Auch die Frau war anziehend, etwa fünfunddreißig, mit schwarzen Haaren und kostspieligem und elegantem Make-up.
«Bedaure», sagte Lucy, «aber Miss Crackenthorpe ist unpässlich und kann keinen Besuch empfangen.»
«Ich weiß, dass sie krank war, aber es ist sehr dringend, dass ich sie spreche.»
«Ich fürchte –», begann Lucy.
Die Besucherin schnitt ihr das Wort ab. «Ich nehme an, Sie sind Miss Eyelesbarrow, nicht wahr?» Sie lächelte einnehmend. «Mein Sohn hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin Lady Stoddart-West, und Alexander ist im Moment bei uns.»
«Ah, so ist das», sagte Lucy.
«Und es ist sehr wichtig, dass ich Miss Crackenthorpe sprechen kann», fuhr ihr Gegenüber fort. «Ich weiß alles über ihre Krankheit, und ich versichere Ihnen, dies ist kein bloßer Höflichkeitsbesuch. Es geht um etwas, das die Jungen erwähnt haben – mein Sohn hat davon erzählt. Ich glaube, es ist von weitreichender Bedeutung, und ich möchte Miss Crackenthorpe deswegen sprechen. Könnten Sie sie bitte fragen?»
«Kommen Sie herein.» Lucy führte die Besucherin durch die Halle in den Salon. Dann sagte sie: «Ich werde hinaufgehen und Miss Crackenthorpe fragen.»
Sie ging in den ersten Stock, klopfte an Emmas Tür und trat ein.
«Lady Stoddart-West ist hier», sagte sie. «Sie möchte Sie dringend sprechen.»
«Lady Stoddart-West?» Emma wirkte überrascht. Dann verzog sie erschrocken das Gesicht. «Den Jungen, ich meine Alexander wird doch nichts passiert sein?»
«Nein, nein», konnte Lucy sie beruhigen. «Den Jungen geht es offenbar gut. Wenn ich recht verstanden habe, geht es um etwas, das die Jungen ihr erzählt haben.»
«Oh. Aha…» Emma zögerte. «Dann sollte ich sie wohl empfangen. Kann ich mich so sehen lassen, Lucy?»
«Sie sehen sehr gut aus», sagte Lucy.
Emma setzte sich im Bett auf und zog einen flauschigen rosa Schal um die Schultern, der die rosige Färbung ihrer Wangen hervorhob. Ihre schwarzen Haare waren von der Schwester gekämmt und gebürstet worden. Lucy hatte am Vortag eine Schale mit Herbstlaub auf die Frisierkommode gestellt. Der Raum sah einladend aus und erinnerte nicht an ein Krankenzimmer.
«Ich fühle mich eigentlich gut genug, um aufzustehen», sagte Emma. «Dr. Quimper hat gesagt, morgen darf ich wieder herumlaufen.»
«Sie sehen auch ganz wiederhergestellt aus», sagte Lucy. «Kann ich Lady Stoddart-West dann zu Ihnen bringen?»
«Ja, gern.»
Lucy ging wieder nach unten. «Wollen Sie mir zu Miss Crackenthorpe folgen?»
Sie führte die Besucherin nach oben, öffnete ihr die Tür und schloss sie hinter ihr. Lady Stoddart-West ging mit ausgestreckter Hand auf das Bett zu.