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Harold Crackenthorpe runzelte die Stirn. Er öffnete die Schachtel und inspizierte die Tabletten. Ja, sie sahen genauso aus wie die, die er in Rutherford Hall eingenommen hatte. Aber Quimper hatte doch ganz bestimmt gesagt, er könne sie absetzen. «Sie brauchen die jetzt nicht mehr.» Das waren seine Worte gewesen.

«Was ist denn, Schatz?», fragte Alice. «Du siehst besorgt aus?»

«Ach, nichts – es sind nur Tabletten. Die habe ich abends immer genommen. Aber ich bin sicher, der Arzt hat gesagt, ‹die brauchen Sie nicht mehr zu nehmen›.»

Seine Frau sagte gelassen: «Bestimmt hat er gesagt, ‹vergessen Sie nicht, die zu nehmen›.»

«Das ist natürlich möglich», sagte Harold unsicher.

Er sah zu ihr hinüber. Sie beobachtete ihn. Einen Augenblick lang fragte er sich – er dachte nicht oft über Alice nach –, was sie wohl gerade dachte. Ihr sanfter Blick war nichts sagend. Ihre Augen glichen den Fensterhöhlen eines leer stehenden Hauses. Was fühlte Alice, wenn sie an ihn dachte? Hatte sie ihn je geliebt? Er nahm es an. Oder hatte sie ihn nur geheiratet, weil sie glaubte, er hätte es in der City zu etwas gebracht, und weil sie ihre eigene mittellose Existenz satt hatte? Jedenfalls war sie mit ihrer Heirat mehr oder minder gut gefahren. Sie hatte ein Auto und ein Haus in London, sie konnte ins Ausland reisen, wann immer sie wollte, und sich teure Kleider kaufen, obwohl diese weiß Gott an Alice nie nach etwas aussahen. Doch, insgesamt war sie ziemlich gut gefahren. Er fragte sich, ob sie das auch so sah. Sie war von ihm natürlich nicht übermäßig angetan, aber er von ihr ja auch nicht. Sie hatten nichts gemeinsam, weder Interessen noch Erinnerungen. Wenn sie Kinder hätten – aber sie hatten keine Kinder – komisch, dass es in der Familie außer dem Jungen der kleinen Edie keine Kinder gab. Die kleine Edie. Sie war ein törichtes Mädchen gewesen, das eine närrische, übereilte Kriegsheirat eingegangen war. Nun, er hatte ihr damals Bescheid gestoßen.

Er hatte gesagt: «Das ist ja alles schön und gut, diese flotten, jungen Piloten mit ihrem Mut und ihrem aufregenden Leben und so, aber im Frieden wird er zu nichts nütze sein, weißt du. Er wird dich wahrscheinlich kaum ernähren können.»

Edie hatte gesagt, das sei ihr egal. Sie liebte Bryan, und Bryan liebte sie, und wahrscheinlich würde er sowieso bald fallen. Warum gönnte Harold ihnen nicht ein kleines bisschen Glück? Welchen Sinn hatte es, an die Zukunft zu denken, wenn sie jeden Moment ausgebombt werden konnten? Außerdem spielte die Zukunft sowieso keine große Rolle, hatte Edie gesagt, denn eines Tages würden sie Großvaters Geld erben.

Harold rutschte unbehaglich hin und her. Das Testament seines Großvaters war ein Schlag ins Gesicht gewesen! Hatte sie alle zu Marionetten gemacht. Niemand hatte sich darüber freuen können. Die Enkelkinder freuten sich nicht, und ihr Vater war fuchsteufelswild geworden. Der alte Knabe war fest entschlossen, nicht zu sterben. Deshalb war er immer so vorsichtig. Aber bald würde er sterben. Er musste einfach bald sterben. Anderenfalls – Harolds sämtliche Sorgen brandeten wieder über ihn hinweg, und er fühlte sich krank, müde und schwindelig.

Er merkte, dass Alice ihn nicht aus den Augen gelassen hatte. Er fühlte sich unter ihrem blassen, nachdenklichen Blick unwohl.

«Ich glaube, ich gehe ins Bett», sagte er. «Das war mein erster Tag in der City.»

«Ja», sagte Alice, «das ist sicher eine gute Idee. Der Arzt hat bestimmt gesagt, du sollst die Sache langsam angehen lassen.»

«Das sagen alle Ärzte», sagte Harold.

«Und vergiss deine Tabletten nicht, Schatz», sagte Alice und reichte ihm die Schachtel.

Er sagte gute Nacht und ging nach oben. Ja, er brauchte die Tabletten. Es wäre ein Fehler gewesen, sie zu früh abzusetzen. Er steckte zwei davon in den Mund und trank ein Glas Wasser hinterher.

Vierundzwanzigstes Kapitel

«Niemand hätte die Sache so vermasseln können wie ich», sagte Dermot Craddock düster.

Er saß im überladenen Salon der treuen Florence, wo er etwas fehl am Platz wirkte, und streckte die Beine aus. Er war hundemüde, durcheinander und entmutigt.

Miss Marple widersprach leise und beschwichtigend. «Nein, nein, Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, mein Lieber. Ganz hervorragende Arbeit.»

«Ich soll hervorragende Arbeit geleistet haben, ja? Ich lasse zu, dass eine ganze Familie vergiftet wird. Alfred Crackenthorpe ist tot, und jetzt ist auch Harold tot. Was zum Teufel geht hier eigentlich vor? Das würde ich wirklich gern wissen.»

«Vergiftete Tabletten», sagte Miss Marple grübelnd.

«Genau. Eigentlich verdammt clever. Sie sahen genauso aus wie die Tabletten, die er vorher genommen hatte. Es lag sogar ein Vordruck bei, ‹auf Anordnung von Dr. Quimper›. Nur hat Quimper sie nie bestellt. Die Etiketten stammen vom Apotheker, aber der Apotheker weiß nichts davon. Nein. Die Tablettenschachtel stammt aus Rutherford Hall.»

«Sind Sie sicher, dass sie aus Rutherford Hall stammt?»

«Ja. Wir haben alles überprüft. Es ist, genauer gesagt, die Schachtel von Emmas Beruhigungstabletten.»

«Aha, verstehe. Von Emma…»

«Ja. Die Schachtel trägt ihre Fingerabdrücke, die der beiden Schwestern und des Apothekers. Sonst natürlich keine. Der Absender hat an alles gedacht.»

«Und die Beruhigungstabletten sind entfernt und durch andere ersetzt worden?»

«Ja. Das ist natürlich die Crux mit Tabletten. Eine sieht aus wie die andere.»

«Sie haben ja so Recht», stimmte Miss Marple zu. «Ich erinnere mich gut an meine Jugend, als es die schwarze Mixtur gab, die braune (die war gegen Husten), dann die weiße Mixtur und die rosa Mixtur von Doktor Soundso. Die wurden so gut wie nie verwechselt. Wissen Sie, in meinem Heimatdorf St. Mary Mead bevorzugen wir eigentlich heute noch diese alten Medikamente. Dort will alle Welt Flaschen haben, keine Tabletten. Was war denn in den Tabletten?», fragte sie.

«Aconitin. Das sind Tabletten, die üblicherweise im Giftschrank aufbewahrt werden und nur äußerlich in einer Verdünnung von eins zu hundert angewendet werden.»

«Und Harold hat sie eingenommen und ist gestorben», sinnierte Miss Marple. Dermot Craddock gab ein Stöhnen von sich.

«Bitte verzeihen Sie, dass ich mich so gehen lasse», sagte er. «‹Tante Jane kannst du doch alles erzählen›; so ungefähr fühle ich mich!»

«Das finde ich sehr, sehr nett von Ihnen», sagte Miss Marple, «und ich weiß es zu schätzen. Mit Ihnen als Sir Henrys Patensohn habe ich viel lieber zu tun als mit einem x-beliebigen Detective-Inspector.»

Dermot Craddock lächelte säuerlich. «Trotzdem habe ich uns einen fürchterlichen Schlamassel eingebrockt», sagte er. «Der Chief Constable hier vor Ort ersucht Scotland Yard um Amtshilfe, und wen bekommen sie? Mich, und ich mache mich zum Affen!»

«Aber nein», sagte Miss Marple.

«Aber ja. Ich weiß nicht, wer Alfred vergiftet hat, ich weiß nicht, wer Harold vergiftet hat, und zur Krönung des Ganzen habe ich keinen blassen Dunst, wer die ermordete Frau war! Die Geschichte mit Martine schien mir so sicher wie das Amen in der Kirche. Alles passte zusammen. Und plötzlich taucht aus heiterem Himmel die echte Martine auf und erweist sich in einem unglaublichen Zufall als Frau von Sir Robert Stoddart-West. Und wer ist nun die Frau in der Scheune? Weiß der Henker. Erst bin ich todsicher, dass sie Anna Strawinska ist, und plötzlich ist auch die aus dem Spiel –»

Er unterbrach sich, als Miss Marple ihr unverkennbares leises Räuspern von sich gab.