«Ist sie das?», murmelte sie.
Craddock starrte sie an. «Na, die Postkarte aus Jamaika –»
«Gewiss», sagte Miss Marple, «aber das ist doch noch kein Beweis, oder? Ich könnte mir denken, dass heutzutage praktisch jeder praktisch überall eine Postkarte aufgeben lassen kann. Ich weiß noch, wie Mrs. Brierly den schlimmen Nervenzusammenbruch hatte. Man empfahl ihr, sich zur Beobachtung in eine Nervenheilanstalt zu begeben, und sie machte sich solche Sorgen, die Kinder könnten es erfahren, dass sie vierzehn Postkarten schrieb und dafür sorgte, dass sie an verschiedenen Orten im Ausland aufgegeben wurden. Und auf allen stand, Mummy würde Ferien machen.» Sie sah Inspector Craddock an und fügte hinzu: «Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?»
«Ja, natürlich», sagte Craddock und starrte sie an. «Wir hätten diese Postkarte natürlich genau unter die Lupe genommen, wenn sie nicht so ideal zu der Martine-Geschichte gepasst hätte.»
«So einleuchtend», murmelte Miss Marple.
«Alles fügte sich», sagte Craddock. «Schließlich der von Martine Crackenthorpe unterschriebene Brief, den Emma bekommen hat. Von Lady Stoddart-West stammt er nicht, aber irgendjemand muss ihn schließlich geschrieben haben. Jemand, der sich als Martine ausgeben und damit Kasse machen wollte. Das lässt sich doch nicht bestreiten.»
«Nein, nein.»
«Und dann der Briefumschlag mit der Londoner Adresse in Emmas Handschrift. Der ist in Rutherford Hall gefunden worden; dann muss sie also dort gewesen sein.»
«Die Ermordete war aber nicht dort gewesen!», widersprach Miss Marple. «Nicht in Ihrem Sinne. Sie ist erst nach Rutherford Hall gekommen, als sie schon tot war. Sie ist aus einem Zug auf den Bahndamm gestoßen worden.»
«Ja, richtig.»
«In Wirklichkeit beweist der Umschlag nur, dass der Mörder dort gewesen ist. Wahrscheinlich hat er ihr den Umschlag zusammen mit den anderen Papieren abgenommen und ihn aus Versehen fallen gelassen – das heißt, ich frage mich gerade, ob es ein Versehen war. Inspector Bacon und Ihre Männer werden das Grundstück doch gründlich abgesucht haben, und sie haben ihn nicht gefunden. Erst später ist er im Kesselhaus aufgetaucht.»
«Das lässt sich erklären», sagte Craddock. «Der alte Gärtner spießt immer sämtliche Papierfetzen auf, die durch die Gegend wehen, und stopft sie da rein.»
«Wo er praktischerweise von den Jungen gefunden werden musste», sagte Miss Marple nachdenklich.
«Sie meinen, er sollte gefunden werden?»
«Das frage ich mich jedenfalls. Man konnte sich ja leicht denken, wo die Jungen als Nächstes suchen würden, man konnte es ihnen sogar nahe legen… ja, ich frage mich. Dadurch haben Sie nicht mehr an Anna Strawinska gedacht, nicht wahr?»
Craddock sagte: «Und Sie glauben wirklich, sie könne hinter all dem stecken?»
«Ich glaube, Ihre zunehmenden Ermittlungen in ihre Richtung haben irgendwen aufgescheucht, das ist alles… Ich glaube, irgendwem passten diese Ermittlungen nicht in den Kram.»
«Bleiben wir doch einen Augenblick bei der grundlegenden Tatsache, dass sich jemand als Martine ausgeben wollte», bat Craddock. «Und es dann aus irgendeinem Grund unterlassen hat. Warum?»
«Das ist eine sehr interessante Frage», sagte Miss Marple.
«Jemand hat ein Telegramm geschickt, demzufolge Martine nach Frankreich zurückkehren würde, ist dann mit dem Mädchen hergefahren und hat sie unterwegs ermordet. Sind Sie so weit einverstanden?»
«Nicht ganz», sagte Miss Marple. «Ich glaube, Sie machen es sich noch nicht einfach genug.»
«Einfach!», rief Craddock. «Sie bringen mich ganz durcheinander», klagte er.
Miss Marple sagte bekümmert, nichts liege ihr ferner.
«Nun sagen Sie schon», sagte Craddock, «glauben Sie zu wissen, wer die Ermordete war, oder nicht?»
Miss Marple seufzte. «Es ist so schwierig, dafür die richtigen Worte zu finden», sagte sie. «Ich meine, ich weiß nicht, wer sie war, aber gleichzeitig bin ich ziemlich sicher zu wissen, wer sie war, wenn Sie mir da folgen können.»
Craddock schlug die Hände über dem Kopf zusammen. «Ihnen folgen? Nicht im Geringsten.» Er sah aus dem Fenster. «Da kommt Ihre Lucy Eyelesbarrow», sagte er. «Ich mach mich davon. Meine Selbstachtung ist heute Nachmittag im Keller, und da kann ich keine Frau ertragen, die vor Tüchtigkeit und Erfolg nur so strotzt.»
Fünfundzwanzigstes Kapitel
«Ich habe im Wörterbuch ‹Tontine› nachgeschlagen», sagte Lucy.
Die Begrüßung hatten sie hinter sich, und Lucy lief ziellos durchs Zimmer, tätschelte hier einen Porzellanhund und strich dort über einen Sesselschoner oder den Plastiknähkasten am Fenster.
«Das hatte ich nicht anders erwartet», sagte Miss Marple gleichmütig.
Lucy zitierte in langsamen Worten. «Lorenzo Tonti, italienischer Bankier, 1653 Begründer einer Rentenform, bei der die Anteile Verstorbener den Überlebenden zufallen.» Sie hielt inne. «Darum geht es, nicht wahr? Das passt haargenau, und Sie haben sogar schon vor den letzten beiden Morden daran gedacht.»
Sie nahm ihre rastlosen Streifzüge durchs Zimmer wieder auf. Miss Marple sah ihr zu. Das war eine ihr ganz neue Lucy Eyelesbarrow.
«Wahrscheinlich konnte so etwas einfach nicht gut gehen», sagte Lucy. «Ein Testament, das darauf hinausläuft, dass der letzte Überlebende das gesamte Erbe bekommt. Dabei ging es doch um so viel Geld, oder? Man sollte meinen, dass man mit dem eigenen Anteil reich genug bedacht wäre…» Ihre Stimme verlor sich.
«Die Malaise ist die Gier der Menschen», sagte Miss Marple. «Mancher Menschen. Sehr oft bringt diese den Stein ins Rollen. Am Anfang steht kein Mord, nicht einmal ein Wunsch zu morden oder auch nur der Gedanke daran. Am Anfang steht die nackte Gier; man will mehr haben, als einem zusteht.» Sie ließ ihr Strickzeug in den Schoß sinken und starrte ins Leere. «Durch einen solchen Fall habe ich übrigens Inspector Craddock kennen gelernt. Ein Fall auf dem Lande. In der Nähe von Medenham Spa. Der begann ganz genau so. Ein liebenswürdiger, aber schwacher Charakter wollte viel Geld. Geld, auf das er keinen Anspruch hatte, das aber anscheinend leicht zu bekommen war. Kein Gedanke an Mord. Bloß so kinderleicht, dass es nicht einmal unrecht wirkte. So fing alles an… und es endete mit drei Morden.»
«Genau wie hier», sagte Lucy. «Jetzt sind schon drei Menschen ermordet worden. Die Frau, die sich als Martine ausgegeben hat und einen Anteil für ihren Sohn beansprucht hätte, dann Alfred und schließlich Harold. Und jetzt sind nur noch zwei übrig, richtig?»
«Sie meinen, nur Cedric und Emma sind noch übrig?», fragte Miss Marple.
«Emma nicht. Emma ist kein großer schwarzhaariger Mann. Nein, ich meine Cedric und Bryan Eastley. Ich habe Bryan lange Zeit ausgeklammert, weil er blond ist. Er hat einen blonden Schnurrbart und blaue Augen, aber wissen Sie – kürzlich…» Sie stockte.
«Fahren Sie fort», sagte Miss Marple. «Sagen Sie es ruhig. Irgendetwas hat Sie ziemlich erschüttert, nicht wahr?»
«Es war bei Lady Stoddart-Wests Abfahrt. Sie hatte sich schon verabschiedet, drehte sich am Auto aber noch einmal um und fragte: ‹Wer war eigentlich der große dunkle Mann auf der Terrasse, als ich gekommen bin?»
Erst wusste ich nicht, wen sie meinte, weil Cedric ja noch ans Bett gefesselt war, und fragte etwas verwirrt: ‹Meinen Sie etwa Bryan Eastley?› Und sie sagte: ‹Natürlich, der war es, Geschwaderkommodore Eastley. Die Resistance hat ihn in Frankreich mal bei uns auf dem Speicher versteckt. Ich habe seine Statur und seine breiten Schultern wieder erkannt.› Dann meinte sie noch: «Ich würde ihn gern sprechen›, aber wir konnten ihn nirgends finden.»