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Miss Marple sagte nichts, saß nur abwartend da.

«Und später habe ich ihn mir dann genauer angesehen», sagte Lucy. «Er stand mit dem Rücken zu mir, und da fiel mir auf, was mir schon viel früher hätte auffallen sollen. Auch bei einem blonden Mann können die Haare dunkel wirken, wenn er sie mit Pomade eincremt. Bryans Haare haben einen Bronzeton, aber wahrscheinlich können sie dunkler wirken. Deswegen könnte es auch Bryan gewesen sein, den Ihre Freundin im Zug gesehen hat. Es könnte…»

«Ja», sagte Miss Marple, «daran hatte ich auch schon gedacht.»

«Ich glaube, Sie denken wirklich an alles!», sagte Lucy bitter.

«Aber Liebes, das muss man doch.»

«Ich verstehe bloß nicht, was Bryan davon hätte. Das Geld würde doch an Alexander und nicht an ihn gehen. Klar, es würde den beiden vieles erleichtern, sie könnten sich ein bisschen mehr leisten, aber er könnte nicht mit dem Kapital seine Projekte finanzieren oder was immer er vorhat.»

«Aber wenn Alexander vor dem einundzwanzigsten Lebensjahr etwas zustoßen würde, dann würde Bryan als sein Vater und nächster Angehöriger das Geld bekommen», bemerkte Miss Marple.

Lucy sah sie entsetzt an.

«Das würde er niemals tun! Kein Vater könnte so etwas tun – bloß um an Geld zu kommen.»

Miss Marple seufzte. «Die Menschen tun so etwas, Liebes. Es ist traurig und schrecklich, aber sie tun so etwas.

Die Menschen tun schreckliche Dinge», führte sie aus. «Ich kenne eine Frau, die drei ihrer Kinder vergiftet hat, bloß wegen einer kleinen Versicherungssumme. Dann gab es eine alte Dame, auf den ersten Blick eine nette alte Dame, die ihren Sohn vergiftet hat, als er im Fronturlaub nach Hause kam. Dann war da die alte Mrs. Stanwich. Ihr Fall ging durch die Zeitungen. Ich nehme an, Sie haben davon gelesen. Ihre Tochter starb, dann ihr Sohn, und schließlich sagte sie, sie selbst sei vergiftet worden. In ihrem Haferschleim fand sich tatsächlich Gift, aber wie sich herausstellte, hatte sie es selber hineingemischt. Sie war drauf und dran gewesen, auch die letzte Tochter zu vergiften. Und da ging es nicht einmal um Geld. Sie stieß sich bloß an der Jugend und Lebenslust ihrer Kinder und hatte Angst – es ist schrecklich, so etwas zu sagen, aber es ist wahr –, sie würden sich amüsieren, wenn sie einmal nicht mehr wäre. Sie hatte immer auf ihrem Geld gesessen. Ja, natürlich war sie etwas sonderbar, wie man so sagt, aber ich verstehe nicht, dass das eine ernsthafte Entschuldigung sein soll. Ich finde, man kann auf so viele verschiedene Weisen sonderbar sein. Die einen Menschen verschenken einfach ihren ganzen Besitz und stellen Schecks auf nicht vorhandene Bankkonten aus, einfach nur, um den Menschen Gutes zu tun. Sie sehen also, ein sonderbares Verhalten kann auch auf Selbstlosigkeit zurückgehen. Aber wenn ein sonderbares Verhalten auf Niedertracht zurückgeht – tja, dann steht man dumm da. Hilft Ihnen das weiter, meine liebe Lucy?»

«Hilft mir was weiter?», fragte Lucy verwirrt. «Was ich Ihnen eben erklärt habe», sagte Miss Marple. Begütigend fügte sie hinzu: «Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Dazu besteht gar kein Anlass. Elspeth McGillicuddy muss schon bald hier eintreffen.»

«Ich verstehe nicht, was das damit zu tun haben soll.»

«Sie vielleicht nicht, Liebes. Ich halte es jedoch für wichtig.»

«Ich kann mir nicht helfen, ich mache mir trotzdem Sorgen», sagte Lucy. «Wissen Sie, die Familie interessiert mich immer mehr.»

«Ich weiß, Liebes, für Sie ist es so schwierig, weil Sie sich, wenn auch auf verschiedene Weise, zu beiden hingezogen fühlen, nicht wahr?»

«Wie meinen Sie das?», fragte Lucy schroff.

«Ich meine die beiden Söhne des Hauses», sagte Miss Marple. «Beziehungsweise den Sohn und den Schwiegersohn. Glücklicherweise sind die beiden unsympathischeren Mitglieder der Familie gestorben, und die beiden attraktiveren sind übrig geblieben. Denn auch Cedric Crackenthorpe ist auf seine Art sehr attraktiv. Er spielt nur gern den Bürgerschreck und provoziert gerne.»

«Er macht mich manchmal rasend», sagte Lucy.

«Gewiss, aber das gefällt Ihnen ja so an ihm, stimmt’s?», sagte Miss Marple. «Sie sind ein temperamentvolles Mädchen, und Sie wissen ein Rededuell zu schätzen. Doch, ich verstehe, worauf die Anziehung beruht. Mr. Eastley ist dagegen ein Mann voller Weltschmerz und erinnert an einen traurigen kleinen Jungen. Auch das ist natürlich attraktiv.»

«Und einer von beiden ist ein Mörder», sagte Lucy bitter, «und beide sind gleich verdächtig. Letztlich unterscheiden sie sich in nichts. Cedric ist der Tod seiner Brüder Alfred und Harold schnuppe. Er lehnt sich einfach zurück und malt sich stillvergnügt aus, was er mit Rutherford Hall alles machen wird, ja, er gibt sogar zu, dass er viel Geld braucht, um seine Pläne zu verwirklichen. Mir ist natürlich klar, dass er ein Mensch ist, der die eigene Abgebrühtheit übertreibt. Aber das könnte auch Tarnung sein. Viele Menschen halten einen schließlich für gefühlloser, als man wirklich ist. Aber es könnte auch stimmen. Man könnte sogar noch gefühlloser sein, als man sich gibt!»

«Ach, meine liebe Lucy, das alles tut mir so schrecklich Leid.»

«Und dann Bryan», fuhr Lucy fort. «Es ist sonderbar, aber Bryan würde anscheinend tatsächlich gern dort wohnen. Er meint, Alexander und er würden es dort herrlich finden, und auch er hat den Kopf voller Pläne.»

«Und es sind immer die verschiedensten Pläne, nicht wahr?»

«Ja, ich glaube schon. Sie hören sich alle wunderbar an – aber ich habe das ungute Gefühl, dass sich keiner davon verwirklichen lässt. Sie hören sich toll an – aber ich glaube, er macht sich gar nicht klar, wie schwer es wäre, sie wirklich umzusetzen.»

«Alles hängt gewissermaßen in der Luft, ja?»

«Ja, in verschiedener Hinsicht. Die meisten hängen wortwörtlich in der Luft. Es sind alles Wolkenkuckucksheime. Vielleicht kommt ein hervorragender Jagdflieger nie wieder richtig auf den Boden…»

Sie setzte hinzu: «Und er mag Rutherford Hall so, weil es ihn an das große und weitläufige viktorianische Herrenhaus erinnert, in dem er seine Kindheit verbracht hat.»

«Verstehe», sagte Miss Marple nachdenklich. «Ja, ich verstehe…»

Dann warf sie Lucy einen schrägen Blick zu und sprang sie mit dem nächsten Satz förmlich an: «Aber das ist noch nicht alles, oder, Liebes? Sie haben noch mehr auf dem Herzen.»

«O ja, allerdings. Das ist mir erst vor ein paar Tagen klar geworden. Bryan kann tatsächlich in dem Zug gewesen sein.»

«Dem 16.33 aus Paddington?»

«Ja. Wissen Sie, Emma glaubte, auch sie solle haarklein darlegen, was sie am 20. Dezember getan hat, und sie ist alles ganz genau durchgegangen – eine Komiteesitzung am Vormittag, Einkaufen am Nachmittag, Tee im Green Shamrock, und dann, hat sie gesagt, hat sie Bryan vom Zug abgeholt. Angeblich vom 16.50 aus Paddington, aber er kann ja mit dem früheren Zug gefahren sein und dann so getan haben, als wäre er mit dem späteren gekommen. Er hat mir nebenbei erzählt, sein Wagen hätte eine Schramme abgekriegt und wäre in der Werkstatt gewesen, und deswegen wäre er mit dem Zug gekommen – schrecklich eintönig, hat er gesagt, weil er Züge hasst. Bei ihm klang das alles ganz natürlich… es könnte auch stimmen – aber irgendwie wäre es mir lieber, er wäre nicht mit dem Zug gekommen.»