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Gegen das Mondlicht zeichnete sich die Silhouette Valeries deutlich ab. Sie stand in der geöffneten Tür, das Gesicht dunkel und nicht zu erkennen; um ihren Kopf erstrahlte die goldene Aureole des Haares. Sie sah aus wie eine antike Rachegöttin.

»Nanu, Bob«, sagte sie und kam langsam auf ihn zu. »Fühlst du dich wieder besser?«

»Ja – das heißt nein, mir ist schwindelig.« Panik ergriff ihn. »Ich wollte nur frische Luft schöpfen, vielleicht ein Spaziergang.« Seine Stimme klang brüchig. Es war nicht mehr die Stimme, mit der Bob gestern noch gesprochen hatte. »Ja, ein kleiner Spaziergang würde mir vielleicht ausgesprochen guttun.«

»Ich bringe dich auf die Terrasse. Es ist eine wunderbare Nacht heute.« Sie trat zu ihm und nahm seinen Arm. Er sah, wie sie lächelte – und auf ihn herab blickte.

Er hätte nie geglaubt, daß Knochen so schnell austrocknen können. Er war kleiner geworden. Sein Anzug schlotterte am Körper. Er spürte Valerie, und wo ihr Fleisch das seine berührte, brannte es wie Feuer. Ihr Parfüm roch stark und betäubend. Er versuchte, sich zu wehren, aber er hatte keine Kraft mehr. Willenlos ließ er sich auf die Veranda führen. Er stammelte ein paar unartikulierte Laute, und der Speichel tropfte aus seinem Mund, fiel auf den Rockaufschlag und zu Boden. Er konnte kaum noch sehen.

Valerie brachte ihn zu einem Stuhl und wartete, bis er sich gesetzt hatte. Jetzt konnte er sie wieder sehen, denn das Mondlicht war hell und unbarmherzig.

»Du bist nur müde«, sagte sie. »Ruhe dich aus.«

Die Mattigkeit überflutete ihn wie eine Woge. Sie spülte über ihn hinweg und drang bis in das Mark seiner Knochen. Ihm war übel, und er fühlte sich alt und verbraucht. Das Mondlicht schmerzte in den Augen. Das Leben erschien ihm sinnlos und wie eine Last. Mit letzter Kraft raffte er sich auf und sah in das Gesicht seiner Frau. Es war das Gesicht eines anmutigen, hübschen Mädchens von kaum zehn Jahren.

Ein letzter Funke Lebenswille flackerte in ihm auf. Er bewegte seine spröden Lippen und krächzte mühsam:

»Wer bist du? Was bist du …?«

Sie stand da, eingehüllt vom Silber des Mondlichts, die Arme auf der Brust verschränkt, und sah ihn an. Kalt und erbarmungslos lag ihr Blick auf ihm. Dann sagte sie:

»Hunger und Gier nach Leben erfüllen mich, aber ich habe kein eigenes Leben – ich kann es nur anderen wegnehmen. Ich und andere, die wie ich sind. Wir besitzen das geheime Buch des Lebens, in dem die Schicksale aller Menschen aufgezeichnet sind.« Ihre Stimme klang geisterhaft. Sie klang aber auch erschöpft und müde. »Um so etwas wie leben zu können, müssen wir anderen Menschen die Zukunft rauben, ihnen die Jahre stehlen. Du wärest achtzig Jahre alt geworden, Bob.«

Sie setzte sich auf die Steinmauer der Terrasse und ließ ihn nicht aus den Augen. Bob verhielt sich ganz ruhig und beobachtete sie. Leise fragte er:

»Wie macht ihr es?«

Valerie lächelte.

»Als du mich zur Frau nahmst, gelobtest du, eins mit mir zu sein und dein Leben mit mir zu teilen. Zu teilen, Bob. Aber ich habe kein eigenes Leben, nur den Hunger und die Gier danach. Jedesmal bei einer Berührung, bei einem Kuß, bei einer Umarmung, überhaupt immer, wenn wir uns nahe waren, saugte ich dich aus, nahm dir ein Stück deiner Zukunft. Aber was sind fünfzig oder sechzig Jahre gegen vollkommene Leere? Wir konnten nicht teilen, ich wollte alles. Deine Jahre gehören nun mir; ich werde sie leben.«

Ihm wurde schwarz vor den Augen. Aber sein Wille war stärker als die Furcht. Schmerz raste durch seinen Körper, als er auf die Füße sprang. Seine Hände umklammerten die Stuhllehnen und gaben ihm Halt.

»Nein, du kannst mir nicht mein Leben stehlen!«

Jetzt konnte er Valerie wieder sehen. Sie starrte ihn an und schüttelte den Kopf.

»Du kannst es nicht ändern, Bob. Schone dich jetzt, denn die Anstrengung tut dir nicht gut. Ob du an Altersschwäche oder durch einen Unfall stirbst, spielt keine Rolle mehr. Deine Jahre gehören mir.«

Es waren tausend verschiedene Gedanken, die in diesem Augenblick von ihm Besitz ergriffen. Er dachte an die vielen kränkelnden Männer, deren Frauen jung und gesund blieben, an die Tatsache, daß die Lebenserwartung der Männer kürzer als die der Frauen war, und er entsann sich der Angewohnheit der Frauen, stets ein Geheimnis um ihr wahres Alter zu machen.

»Dämonen!« stieß er mit zitternden Lippen hervor. »Ihr seid alle Dämonen!«

Er begann zu schreien und sank in die Knie. Der Schmerz zuckte durch seine Beine, als sie einknickten und er lang am Boden lag, genau vor Valeries Füßen. Sie saß immer noch auf der niedrigen Steinmauer und sah auf ihn herab.

»Gnade!« wisperte er mit versagender Stimme. »Val … bitte …«

Sie lachte spöttisch.

Es war dieses Lachen, das den Rest seiner Lebensglut neu anfachte und ihm die Kraft gab, sich noch einmal aufzurichten. Mit beiden Händen griff er nach ihren Füßen und hob sie an. Er ignorierte die furchtbaren Schmerzen im Rücken und richtete sich auf, ohne Valeries Füße loszulassen. Er hörte, wie sie entsetzt aufschrie, und dann wurden ihm ihre Füße von einem heftigen Ruck aus den Händen gerissen.

Valeries Schrei kam plötzlich aus weiter Ferne und riß jäh ab. Bob fiel kraftlos auf den Rücken. Er sah, daß der Platz, wo Valerie gesessen hatte, leer war. In dem Augenblick, in dem sie unten auf der Straße aufschlug, fühlte er ihren Schmerz. Irgend etwas in ihm zerriß wie ein überspannter Bogen, dann verlor er das Bewußtsein.

Als er eine halbe Stunde später erwachte, war er kräftig genug, um aufzustehen. Sein Anzug paßte ihm wieder. Im Spiegel der Garderobe sah er, daß seine Haare nicht mehr weiß waren, und auch die Zahnschmerzen waren verschwunden. Noch nie hatte er sich so wohl gefühlt.

Schnell glitt der Lift nach unten.

Draußen auf der Straße flutete der Nachtverkehr. Hier unten war es heller als oben unter dem Dach des Hochhauses. Die Leuchtreklamen verdrängten den Mond und tauchten Straße und Bürgersteig in eine grelle Lichtflut.

Bob suchte den zerschmetterten Körper Valeries, aber er fand ihn nicht. Er fand auch keine Blutspuren, sondern nur ein Bündel verschmutzter Kleider. Es lag direkt in der Gosse neben einem Gulli.

Er bückte sich.

Es waren die Sachen, die Valerie eben noch angehabt hatte.

Als er sich wieder erhob, streiften seine Füße den grauen Staub der Gosse. Er wirbelte auf und drang in seine Nase.

Er roch modrig und alt.

Sehr alt.

Die Witwe vom Belgrave Square von Lewis Hammond

Lewis Hammond (1861-1940) war ein englischer Arzt und Versicherungsmathematiker, der sich in jungen Jahren gelegentlich als Erzähler versuchte und hin und wieder bei Zeitschriften mitarbeitete. Eine Sammlung seiner Kurzgeschichten liegt nicht vor. 1940 kam Hammond in London bei einem Luftangriff ums Leben.

Sir Neville Hulme, langjähriger Direktor der Sternwarte von Greenwich, war zweifellos einer unserer bedeutendsten Astronomen, und seine Forschungen auf dem Gebiet der novae fanden ja auch internationale Anerkennung. Aber was immer die Sterne ihm auch verraten haben mochten – über seine eigene Zukunft hatten sie ihm nichts erzählt, sonst hätte er es wohl nicht gewagt, noch im Alter von achtundfünfzig Jahren einen neuen Hausstand zu begründen, und zwar mit der beinahe vierzig Jahre jüngeren Jane Burleigh aus der wallisischen Linie der bekannten Familie.

Die Hochzeit des berühmten Gelehrten, der eine große, schlanke und eindrucksvolle Erscheinung war, mit der auffallend schönen Jane, einem Mädchen keltischen Typs mit roten Haaren, grünen Augen und jener sinnlichen Fülle, wie sie nur noch westlich des Severn vorkommt, verdrängte für einen Tag sogar die Nachrichten von der Weltausstellung in Chicago vom gewohnten Platz, und ganz London beneidete Sir Neville um dieses prachtvolle Geschöpf.