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Es dauerte weitere zehn Minuten, bis ich mich wieder soweit gefaßt hatte, daß ich aus meinem Zimmer schlüpfen und zu jenem des mir vom Schicksal bestimmten Schläfers zurückschleichen konnte; aber schließlich sagte ich mir, daß ich es nun gefahrlos tun könnte; außerdem schwand die Nacht schnell dahin. Wenn überhaupt, dann mußte ich sofort handeln, ehe das erste Licht des Morgengrauens die Geister der Nacht vertrieb, und vielleicht blieb mir dann gar keine Kraft mehr, noch zu handeln.

»Was«, sagte ich mir, »wird nach weiteren vierundzwanzig Stunden Erschöpfung aus mir geworden sein? Werde ich dann noch die Kraft haben, die Wahl zu treffen, was ich will und was ich nicht will? Nein, noch einmal vierundzwanzig Stunden Entkräftung werde ich wahrscheinlich nicht überleben.«

Dies war es, was für mich den Ausschlag gab. Mit äußerster Vorsicht und auf Zehenspitzen näherte ich mich erneut jener Schlafzimmertür, die ich spaltbreit geöffnet hatte.

Diesmal zögerte ich nicht mehr, sondern überquerte sofort die Schwelle und sah mich um. Es war die Schlafkammer der jüngeren Tochter meiner Wirtin, die nach meiner Schätzung etwa sechzehn Jahre alt war. Wohl aufgrund meiner schrecklichen Erscheinung waren mir die Töchter soweit wie möglich aus dem Weg gegangen, so daß ich mir noch gar kein genaueres Urteil über ihr Alter und ihr Aussehen hatte bilden können.

Ich wußte nur, es war die jüngere, denn sie trug ihr Haar lang, und sie trug es in Locken, die lose über das Kissen fielen, auf welchem sie schlief, während ihre ältere Schwester, wie ich bemerkt hatte, ihr Haar glatt und vom Nacken aus hochgesteckt trug.

Ich stand neben dem Bett und sah auf dieses hübsche Mädchen herab, das in dem ganzen Stolz seiner jungen Schönheit schlummerte. Seine Lippen waren geteilt, als sähe es in seinem Traum irgendein angenehmes Bild, das es selbst im Schlaf noch lächeln ließ. Sie murmelte auch zweimal ein Wort, welches ich für den Namen von irgend jemandem hielt – vielleicht das Idol ihres jungen Herzens –, aber er war zu undeutlich ausgesprochen, als daß ich ihn verstand; und es kümmerte mich auch nicht, was da vielleicht ihr gehütetes Geheimnis war. Ich legte keinen weiteren Wert auf ihre Zuneigung, noch war ich irgendwie eifersüchtig; bald würde sie mich sowieso verabscheuen und abgrundtief hassen.

Einer ihrer zarten, exquisit gerundeten Arme lag auf der Bettdecke; auch ihr alabasterweißer Hals war teilweise meinem Blick ausgesetzt, aber ich empfand keine Liebesleidenschaft – Nahrung war es, was ich wollte.

Ich sprang auf sie drauf. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, aber nicht, bevor ich mir einen langen Zug von Lebensblut aus ihrem Hals gesichert hatte. Der genügte mir. Ich spürte, wie er mir wie Feuer durch die Venen rann, und ich fühlte mich sofort gekräftigt. Von diesem Moment an wußte ich, was künftig meine Nahrung sein würde; es war Blut – das Blut von Zarten und Schönen.

Das Haus war sofort alarmiert und aufgeschreckt, aber nicht, bevor ich mich zurück auf mein eigenes Zimmer hatte flüchten können. Ich war nur teilweise angezogen, und jene paar Kleider warf ich ab, stieg in mein Bett und täuschte vor zu schlafen. Und als dann der Gentleman, der gleichfalls im Haus schlief und von dessen Anwesenheit ich bis dahin nichts gewußt hatte, laut an meine Tür klopfte, tat ich so, als würde ich erschreckt erwachen, und rief mit ängstlicher Stimme:

»Was ist? Was ist? Um Gottes willen, sagen Sie mir, steht das Haus in Flammen?«

»Nein, nein – aber stehen Sie auf, Sir, stehen Sie auf. Jemand Fremder ist im Haus. Ich glaube, ein Mordversuch ist gemacht worden, Sir.«

Ich stand auf und öffnete die Tür, so daß er bei dem Licht der Kerze, die er in der Hand hielt, sehen konnte, daß ich mich erst ankleiden mußte; er war selbst nur halb angezogen, unter dem Arm trug er seinen Degen.

»Eine merkwürdige Sache«, sagte er, »aber ich habe ganz deutlich einen Alarmschrei gehört.«

»Ich ebenfalls«, sagte ich, »aber ich glaubte, ich hätte nur geträumt.«

»Hilfe! Hilfe! Hilfe!« schrie die Witwe, die aufgestanden war, aber noch auf der Schwelle ihrer eigenen Kammer stand. »Diebe! Diebe!«

Bis dahin hatte ich mich soweit angekleidet, daß ich geziemend in Erscheinung treten konnte; ebenfalls meinen Degen unter dem Arm, kam ich in den Korridor hinaus.

»Oh, Gentlemen – Gentlemen!« jammerte die Wirtin. »Haben Sie auch etwas gehört?«

»Ja, einen Schrei, Madam«, sagte mein Mitmieter. »Haben Sie schon in die Schlafkammern Ihrer Töchter geschaut?«

Das Zimmer der jüngeren Tochter lag am nächsten, und in dieses ging sie deshalb zuerst. Einen Moment darauf erschien sie wieder auf der Schwelle, im Gesicht weiß wie ein Laken, rang die Hände und stöhnte:

»Mord! Mord! Mein Kind – mein Kind ist ermordet worden, Master Harding.« Das war der Name meines Mitmieters.

»Reißen Sie eines der Fenster auf und rufen Sie nach der Wache«, sagte er zu mir. »Ich werde das Zimmer durchsuchen, und wehe jedem, den ich unerlaubt in dessen Wänden finde.«

Ich tat, wie er gesagt hatte, lehnte mich aus dem Fenster und rief nach der Wache, aber keine Wache kam; dann, bei einem zweiten Besuch im Zimmer ihrer Tochter, stellte die Wirtin fest, daß diese nur ohnmächtig war und daß sie sich durch das Blut an ihrem Hals hatte täuschen lassen, sie sei ermordet worden; daraufhin kam das Haus wieder halbwegs zur Ruhe, und da jetzt sowieso der Morgen nahe war, zog Mr. Harding sich wieder auf sein Zimmer zurück und ich mich auf das meine, und wir überließen es der Wirtin und ihrer älteren Tochter, am Bett der jüngeren zu wachen.

Wie herrlich wiederbelebt ich mich fühlte – ich war eine völlig neue Kreatur, als die hellen Sonnenstrahlen in mein Zimmer fielen. Ich kleidete mich an und wollte gerade das Haus verlassen, als Mr. Harding aus einem der Zimmer im Parterre trat und mich abfing.

»Sir«, sagte er, »ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, aber ich bin sicher, ein allgemeines Gefühl von Anstand und Ritterlichkeit wird Sie veranlassen, alles in Ihren Kräften Stehende zu tun, einer so schrecklichen Bedrohung wie in der letzten Nacht vorzubeugen, damit sie sich nicht wiederholen kann.«

»Bedrohung, Sir?« sagte ich. »Bedrohung von wem und durch was?«

»Eine sehr berechtigte Frage«, sagte er, »aber gleichzeitig eine, die ich kaum beantworten kann. Das Mädchen behauptet, sie sei davon erwacht, daß jemand sie in den Hals biß, und als Beweis dafür weist sie auch tatsächlich Bißspuren vor. So entsetzt ist sie darüber, daß sie erklärt, niemals wieder schlafen zu können.«

»Sie erstaunen mich«, sagte ich.

»Sicher, die Sache ist so erstaunlich, daß man niemandem die Zweifel verdenken kann, die er haben mag. Aber wenn Sie und ich, die wir beide Bewohner dieses Hauses sind, heute nacht in dem Korridor Wache halten würden, könnte das auf die Einbildung des jungen Mädchens eine beruhigende Wirkung haben, und vielleicht gelingt es uns dadurch, dem nächtlichen Störenfried auf die Spur zu kommen.«

»Gewiß«, sagte ich, »ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, und es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Gut, machen wir dann gleich jetzt aus, daß wir uns um elf Uhr abends in Ihrem oder meinem Apartment treffen.«

»In welchem immer Sie wollen, Sir. Welches Sie für das geeignetere halten.«

»Ich schlage meines vor, welches die letzte Tür im Korridor ist und wo ich mich glücklich schätzen werde, Sie um elf zu sehen.«

Es war da etwas an den Manieren dieses jungen Mannes, das mir nicht ganz gefiel, und doch konnte ich nicht zu einem positiven Schluß kommen, ob er mich verdächtigte; daher hielt ich es für voreilig, zu fliehen, wenn dafür vielleicht überhaupt kein Anlaß bestand. Im Gegenteil, ich entschloß mich, das Ergebnis des Abends abzuwarten, das vielleicht verhängnisvoll für mich sein würde, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls glaubte ich, mich schon irgendwie aus der Klemme ziehen zu können. Wenn mir tatsächlich vom Schicksal bestimmt war, in meiner neuen schrecklichen Existenz als ein von der menschlichen Gesellschaft Ausgeschlossener zu leben, gewöhnte ich mich lieber beizeiten daran und sah zu, wie ich mich aus solchen Schwierigkeiten retten konnte, die sich immer wieder ergeben würden.