Sybil und Gertrude schien es genauso zu ergehen. Wir waren wegen dieser ganzen Sache alle sehr bestürzt, und auch Monica war auf ihre Weise eingeschüchtert. Gleich würde der Vorhang nach jener Szene fallen, mit der der erste Akt endet. Dann würden auch die Bühnenlichter aufleuchten.
Als der Vorhang schließlich fiel – mit einer weiteren Runde Applaus von jenseits der Rampe – und wir über die Bühne gingen, Monica dicht neben mir, denn mein Arm lag noch immer auf ihrer Schulter, da hörten wir einen erstickten männlichen Schreckensschrei, der uns entsetzte und zur Eile antrieb. Ungefähr zur gleichen Zeit waren fast ein Dutzend Personen auf der linken Bühnenseite versammelt, unter ihnen natürlich der Prinzipal und die anderen, die auf der Bühne gewesen waren.
F.F. und Props standen in der Tür zur Requisitenkammer und blickten in den versteckten Teil des L-förmigen Raumes hinab. Sogar von der Seite sahen die beiden recht mitgenommen aus. Dann kniete sich F.F. nieder und verschwand aus meinem Gesichtsfeld, während Props sich in gekrümmter Haltung über ihn beugte.
Als wir uns mit hochgereckten Hälsen um Props drängten, um einen Blick zu erhaschen – ich war unter den ersten und stand direkt neben dem Prinzipal –, sahen wir etwas, das nur einen einzigen Schluß zuließ: Dieser Geist würde nie mehr vor den Vorhang treten und sich für den Applaus bedanken können, der noch immer aus dem Zuschauerraum heraufbrandete, obwohl die Hauslichter für die erste Pause bereits an sein mußten.
Guthrie Boyd lag in seinen Straßenkleidern auf dem Rücken. Sein Gesicht sah grau aus, seine Augen blickten starr. Um ihn herum verstreut lagen der Umhang des Geistes, der Schleier, der Helm und eine leere Whiskyflasche.
Zwischen den beiden unmittelbar aufeinanderfolgenden Erschütterungen – Monicas Enthüllung und die Entdeckung des Leichnams in der Requisitenkammer – hatte sich ein Zustand der Erschöpfung meines Denkens bemächtigt. Monicas hilfloser, ungläubig staunender Gesichtsausdruck verriet mir, daß sie das gleiche wie ich fühlte. Ich versuchte, die Dinge wieder ineinanderzufügen, aber sie wollten einfach nicht mehr zusammenpassen.
F.F. schaute uns über seine Schulter hinweg an. »Er atmet nicht mehr«, sagte er, »ich fürchte, er ist tot.« Dann begann er, Boyds Krawatte aufzubinden, sein Hemd aufzuknöpfen und seinen Kopf auf den zusammengerollten Umhang zu betten. Er reichte uns die Whiskyflasche zurück, deren sich Joe schleunigst entledigte.
Der Prinzipal schickte jemanden nach einem Arzt, und innerhalb von zwei Minuten brachte Harry Grossman einen aus dem Publikum herauf, der seine Platznummer und sein Köfferchen an der Abendkasse hinterlassen hatte.
Er war ein kleiner Mann – kaum die Hälfte von Guthrie – und vor Schreck fast gelähmt, aber er versuchte sich gerade deshalb mit größter professioneller Würde aufrechtzuhalten, als wir ihm Platz machten und uns hinter ihm zusammendrängten.
Er bestätigte F.F.’s Diagnose und erhob sich schnell wieder, nachdem er sich für ein paar Sekunden bei Guthrie niedergekniet hatte. Dann sagte er sehr hastig zum Prinzipal, so als würden ihm die Worte entgegen seiner gewohnten beruflichen Zurückhaltung überraschend entschlüpfen: »Mr. Usher, wenn ich nicht selbst Zeuge gewesen wäre, daß dieser Mann soeben eine großartige schauspielerische Leistung vollbracht hat, würde ich denken, er ist seit einer Stunde oder länger tot.«
Er sprach so leise, daß ihn nur wenige verstanden, aber ich verstand ihn, und auch Monica schien ihn verstanden zu haben. Und das war die dritte große Erschütterung – ich stellte mir für einen Augenblick das grauenhafte Bild vor, wie Guthrie Boyds Geist oder irgendein anderes Wesen seinen toten Körper zwang, diese letzte Aufführung durchzustehen. Wieder einmal versuchte ich vergeblich, die einzelnen Teile dieses nächtlichen Mysteriums richtig ineinanderzufügen. Der kleine Doktor blickte uns lange und verwirrt an. »Ich vermute, er hat den Umhang über seinen Straßenkleidern getragen?« Er machte eine Pause, bevor er uns fragte: »Er hat doch den Geist gespielt?« Der Prinzipal und einige andere nickten, aber ich vermute, F.F. hatte ihm einen seltsamen Blick zugeworfen, denn der Doktor räusperte sich und sagte: »Ich muß den Mann so schnell wie möglich bei besserem Licht und an geeigneterem Ort genauer untersuchen. Gibt es hier …?« Der Prinzipal schlug ihm die Couch in seiner Garderobe vor, und der Doktor bestimmte Joe Rubens, John McCarthy und Francis Farley Scott dazu, den Leichnam zu tragen. Den Rest von uns bat er, zurückzutreten.
Just in diesem Augenblick geschah etwas, das alle Stücke dieses nächtlichen Mysteriums wieder auf ihren angestammten Platz fallen ließ – jedenfalls für mich und auch für Monica, wenn ich die Art und Weise richtig deutete, wie ihre Hand in der meinen zitterte und sich dann fest um meine Hand schloß. Wir waren jetzt im Besitz des Schlüssels zu den unheimlichen Ereignissen. Ich werde Ihnen aber erst erzählen, von welchem Schlüssel ich spreche, wenn ich die Enden dieser Geschichte zusammengeknüpft habe.
Der zweite Akt wurde ungefähr eine Minute hinausgezögert, aber dann hielten wir den Zeitplan ein und brachten sogar eine bessere Vorstellung zustande als gewöhnlich – ich kann mich nicht erinnern, die Friedhofs-Szene jemals so intensiv erlebt zu haben.
Bevor ich meinen eigenen ersten Auftritt hatte, riß mir Joe Rubens meinen Hut vom Kopf, den ich die ganze Zeit über auf hatte. Ich spielte den Güldenstern mit einer Armbanduhr, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand davon Notiz nahm.
F.F. spielte die letzte Erscheinung des Geistes als Stimme jenseits der Bühne. Er imitierte Guthries Stimme recht gut, eine gespenstische Stimme, aber das verlangt ja die Rolle.
Bevor das Drama zu Ende ging, hatte der Doktor entschieden, daß Guthrie an Herzversagen gestorben sei. Kein Wort von seinem Alkoholismus. Als der Vorhang nach dem letzten Akt fiel, informierte Harry Grossman Sohn und Tochter und brachte sie mit hinter die Bühne. Angesichts der Tatsache, daß sie sich um den alten Jungen mehr als ein Jahrzehnt lang nicht gekümmert hatten, waren sie jetzt ziemlich zerknirscht. Andererseits schienen sie es zu genießen, einem so großen und feierlichen Ereignis beiwohnen zu dürfen, vor allem Guthries streitsüchtiger Schwiegersohn. Am nächsten Morgen brachten die beiden Zeitungen von Wolverton Schlagzeilen über das Ereignis. Guthrie hat als Geist nie soviel Aufsehen erregt. Die merkwürdigen Umstände sorgten dafür, daß die Pressemeldung rund um die Welt ging.
Am Nachmittag des dritten Tages fand die Beerdigung statt, wenige Stunden vor unserer letzten Aufführung in Wolverton. Die ganze Truppe nahm gemeinsam mit Guthries Angehörigen und vielen anderen Wolvertonern daran teil. Die alte Sybil brach am Grabe zusammen und schluchzte hemmungslos.
Es mag ein bißchen gefühllos klingen, aber es war für uns doch recht angenehm, daß Guthrie gerade hier gestorben war, denn es sparte uns den Ärger, die Verwandten zu benachrichtigen und aller Wahrscheinlichkeit auch noch für das Begräbnis zu sorgen. Und für den alten Guthrie bedeutete es ein letztes großes Finale. Jedermann außerhalb der Truppe hielt ihn für einen Heros und Märtyrer nach dem Motto: Die Show muß weitergehen. Und natürlich wußten auch wir, daß er in einem tieferen Sinne das auch gewesen war.
Wir mußten bei der Rollenverteilung improvisieren, um die Lücke zu füllen, die Guthrie in den Dramen hinterlassen hatte, so daß der Prinzipal nicht gleich einen neuen Schauspieler zu engagieren brauchte. Für mich, und ich glaube auch für Monica, gestaltete sich der Rest der Spielzeit sehr angenehm. Gertrude und Sybil mußten nun ihre Veranstaltungen am Ouija-Brett allein fortsetzen.
Und jetzt werde ich Ihnen erzählen, was es mit dem kleinen Umstand auf sich hat, der mir und Monica eine befriedigende Lösung dieses nächtlichen Mysteriums bescherte.
Sie werden bemerkt haben, daß Props darin verwickelt war. Als ich ihn daraufhin ansprach, sagte er scheu, daß er mir in diesem Punkte nicht weiterhelfen könne. Er war ja eine Zeitlang dem unerklärlichen Zwang verfallen gewesen, sich betrinken zu müssen, und sein Verstand hatte vollkommen ausgesetzt, schon vor Beginn der Vorstellung bis hin zu dem Augenblick, wo er am Ende des ersten Aktes zusammen mit F.F. an Guthries Leichnam stand. Er erinnerte sich nicht an den Ouija-Schrecken oder an irgendein Wort, das er zu mir über Theater und Zeitmaschinen gesagt hatte.