F.F. erzählte uns, daß er Props nach dem letzten Auftritt des Geistes gesehen habe, wie er – in der Dunkelheit nur vage erkennbar – in die leere Requisitenkammer geschlurft sei, wo sie ein wenig später Guthrie am Boden liegend gefunden hatten. Ich glaube, daß der seltsame Blick, den F.F. – dieser realitättrunkene alte Schuft – dem Doktor zuwarf, nichts anderes andeuten sollte, als daß er selbst den Geist gespielt habe. Leider konnte ich ihn deswegen nicht zur Rede stellen.
Aber nun zu dem kleinen Umstand: Als sie Guthries Leichnam forttrugen und der Doktor den Rest von uns bat, zurückzutreten, da drehte sich Props gehorsam um, richtete sich auf und warf Monica und mir einen vielsagenden Blick zu. Er schien voller Mitleid, lächelte ernst und verwandelte sich für einen kurzen Augenblick in den ewigen Beobachter der Lebensbühne, für den diese kleine Tragödie nur ein Teilchen im unendlich größeren, endlos interessierenden Lebensplan war.
Es dämmerte mir in diesem Moment, daß Props es gewesen sein konnte, denn während unserer Suche hatte er mit größter Aufmerksamkeit den Eingang zur leeren Requisitenkammer beobachtet. Man kann das Kostüm des Geistes ja in Sekundenschnelle aus- oder anziehen (obwohl Props’ Schultern einen Umhang wie den von Guthrie kaum zu füllen vermögen), und dann fiel mir noch ein, daß ich Props und den Geist kurz vor oder während der Vorstellung nie gleichzeitig gesehen hatte. Natürlich, Guthrie war wenige Minuten vor mir angekommen … und gestorben … und Props, ermutigt durch das Trinken, hatte seine Rolle übernommen!
Wie Props mir später erzählte, hatte Monica sofort gewußt, daß es sein hochstirniges Gesicht war, auf das sie durch den grünen Schleier einen flüchtigen Blick hatte werfen können.
In dieser Nacht waren also vier Geister auf der Bühne gewesen – John McCarthy, Francis Farley Scott, Guthrie Boyd und ein vierter, der die Rolle wirklich gespielt hat. Ob Props nun einen Blackout hatte oder nicht – er kannte die Verse von den vielen, vielen ›Hamlet‹-Aufführungen auswendig, denen er in seinem Leben schon beigewohnt hatte, vielleicht auch von begrabenen Erinnerungen aus der Zeit, da er die Rolle in den Tagen der Königin Elizabeth I. verkörpert hatte – und folglich hatte Billy (oder Willy) Simpson oder einfach Willy S. den Geist gespielt. Denn ein guter Schauspieler springt im Notfall automatisch für einen anderen ein.
Das arme alte Gespenst von Heinrich Seidel
Heinrich Seidel (1842-1906) war ein Erzähler humorvoller Kleinstadtidyllen und liebenswerter Vorstadtgeschichten, der mit seinen Erzählungen um Leberecht Hühnchen hohe Auflagen erzielte. Er arbeitete nach einem polytechnischen Studium zuerst als Ingenieur und machte sich als Konstrukteur des Hallendaches über dem Anhalter Bahnhof einen Namen, bevor er sich seit 1880 ganz der freien Schriftstellerei widmete. Auch seine kleine Gespenstergeschichte zeichnet sich durch liebenswerten Humor aus.
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Am Rande des Kiefernwaldes lag ein wüstes, sandiges Feld. Es war ganz sich selber überlassen; es wuchs darauf, was wollte, und das war recht wenig, denn es gehörte viel guter Wille dazu, auf diesem Felde zu gedeihen. Einige kegelförmige Wacholderbüsche hatten mit zäher Energie es vor sich gebracht und zeigten sich von ferne gesehen als einzelne dunkle Gestalten darüber zerstreut, scheinbar in trauriges Nachdenken versunken über ihren trübseligen Beruf. Eine tapfere und listige Sorte von Sandgras, das unter der Oberfläche in sicherer Tiefe strahlenförmig lange schnurgerade Schossen treibt und aus diesen in abgemessenen Entfernungen seine spitzigen Blätter emporsendet, hatte einzelne Strecken übersponnen, an geschützteren Orten hatte rötliches Heidekraut zu kleinen Flächen sich zusammengedrängt, und auf einem niedrigen Sandhügel stand eine knorrige, verkrüppelte Kiefer, bald mit bloßgelegten Wurzeln, bald auch wieder fußtief im Sande vergraben, je nach des regierenden Windes allmächtiger Herrscherlaune. Dieser kleine Sandhügel, der an sonnenhellen Tagen als ein blendender Punkt in der ebenen Landschaft weithin sichtbar war, hatte sich noch nicht für seine endgültige Form entschieden, und unter Beihilfe gütiger Luftströmungen sich in immer neuen Gestalten der erstaunten Umgebung zu zeigen, war sein unablässiges Bestreben.
Der Fleck war einsam und lag an der letzten Grenze der Stadtfelder; niemand suchte dort etwas, weil dort nichts zu finden war. Eine kurze Zeitlang war es anders gewesen, bald nach der Abholzung des kümmerlichen Waldes, der vor Jahren dort gestanden hatte. Es ward bekanntgemacht, daß die Bürger der Stadt an dieser Stelle gegen eine ganz geringe Gegenleistung Kartoffelland erhalten könnten, und es fanden sich zwei Nachbarn, deren Herzen dies Anerbieten mit vagen Hoffnungen und hochfliegenden Spekulationen erfüllte und die in wunderbarer Verblendung von diesem ›Urboden‹ eine üppige Ernte erwarteten. Weise Männer zuckten die Achseln, gewichtige Ackerbürger gaben abmahnende Ratschläge aus dem reichen Schatz ihrer Erfahrung, allein der Dämon der Habgier hatte die Herzen der beiden Männer verhärtet, also daß ihr Sinn verblendet war.
Eines Tages ließ der eine derselben, ein Schuster, sämtliche landwirtschaftlichen Schätze, welche seine fleißige Kuh den Winter über produziert hatte, aufladen und hinausfahren. Er schwang selber die dreizinkige Gabel und schaute mit Befriedigung auf den reichen Segen, der ihm verheißend entgegendampfte.
Am anderen Tag fand bei dem Nachbar Schneider ein ähnliches Ereignis statt. Aber ach, es war nur eine Karikatur dessen, was wir vorhin gesehen haben. Der arme Schneider hatte es nur zu einem Exemplar jenes Tieres bringen können, dessen männliche Mitglieder von alters her zum Schneiderstand in einer von gewissenlosen Spöttern vielfach ausgenutzten Beziehung stehen, und wer die geringen Leistungen dieses Vierfüßlers für den vorliegenden Zweck aus eigener Anschauung kennt, der wird es begreiflich finden, daß der dünne Schneider und seine kümmerliche Ehehälfte es vermochten, im Laufe des Tages auf zwei Handkarren die ganze wohlzusammengesparte Sammlung auf den Acker zu befördern. Seufzend betrachtete das Ehepaar dort den in üppigen Hügeln sich darstellenden Reichtum des Nachbarn – ach, ungleich verteilt sind die Güter dieser Welt!
Nach einigen Tagen ging der Schneider wieder hinaus, um sein Land umzugraben. Wohlausgebreitet, einer Samtdecke vergleichbar, lag jetzt das nachbarliche Gut auf dem Felde. Der Schneider seufzte wieder und begann seine Arbeit. Aber der kräftige Duft, der vom Nebenlande zu ihm herüberwehte, ließ ihm keine Ruhe und befruchtete seine Fantasie. Er sah im Geiste beide Felder nebeneinanderliegen, das eine grün und üppig bewaldet, daß man den Grund nicht sah, das andere mit niedrigen, gelbgrünen Büschen besetzt, so daß man sie vergleichen konnte den beiden Tieren, welche so fleißig für ihr Gedeihen gearbeitet hatten. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe und zu dem Dämon der Habsucht gesellte sich der des Neides. Und aus beider Vermählung ward die Untat geboren, welche dem armen Schneider so verhängnisvoll werden sollte. Er war der ehrlichste Schneider von der Welt gewesen, und seine Hölle war leer geblieben bis auf diesen Tag. Selbst als er dem reichen durchreisenden Herrn den Rock gemacht hatte von dem feinsten Tuche der Welt, dergleichen er nie zuvor und nie nachdem gesehen hatte, behielt er nichts zurück, als, mit Erlaubnis des Fremden, ein kleines Fleckchen, das ihm für diesen meteorglänzenden Höhepunkt seiner Laufbahn als Beweisstück diente. Es lag zu Hause, in sieben Papiere eingewickelt, wohlverwahrt in einer Schachtel. Aber der Mensch soll sich hüten, bösen Leidenschaften die Einkehr in sein Herz zu gestatten.