Es mag töricht oder sentimental klingen, so etwas zu sagen, aber Sie kennen ja meine Meinung, Shakespeare sei für alle und alles gut. Ich weiß von keinem Schauspieler, mich selbst ausgenommen, dessen Charakter nicht durch Shakespeare gestärkt, dessen Weltbild durch ihn nicht erweitert worden wäre. Ich habe gehört, daß Gilbert Usher, bevor er Shakespeare-Darsteller wurde, ein sehr ruheloser, ehrgeiziger und kritischer Mann gewesen sei, nicht ohne Bosheit, aber Shakespeare scheint ihn milde gestimmt zu haben, wie er auch Props’ Philosophie geglättet und ihm ein Lebensziel gewiesen hat. In der Tat denke ich manchmal, daß alles, was das britische Volk an zivilisierter Gelassenheit besitzt – dieser kleinen, aber durchaus realen Fähigkeit, über sich selbst zu lachen – hauptsächlich auf sein großes Glück zurückzuführen ist, daß William in einer seiner Schauspieltruppen geboren worden ist.
Aber ich wollte gerade berichten, wie Guthrie Boyd entgegen unser aller Erwartungen in diesen ersten Wochen erstaunlich gut spielte, so daß wir kaum noch den Atem anzuhalten oder über ihn die Nase zu rümpfen brauchten. Sein Brutus war künstlerisch ausgewogen, sein Kent vortrefflich gelungen – diese Rolle lag ihm besonders –, und regelmäßig erhielt er begeisterte Kritiken für seinen Geist in Hamlet. Ich glaube, daß in all den Jahren des lebenden Todes, die er als Alkoholiker durchlitten hatte, in ihm ein tief empfundenes Verständnis für Einsamkeit und Verzweiflung erwacht war, das er, wahrscheinlich unbewußt, bei der Interpretation dieser kleinen Rolle mit großer Wirkung einzusetzen wußte. Guthrie Boyd in der Rolle des Geistes war wirklich eine höchst eindrucksvolle Gestalt, sogar vom Äußeren her. Das Kostüm ist denkbar einfach: ein großer, die ganze Figur einhüllender Umhang, der bis zum Boden reicht, dann ein mächtiger, schwerfälliger Helm mit einer winzigen, batteriebetriebenen Lampe in seiner Spitze, um einen schwachen grünlichen Schimmer auf die Gesichtszüge des Geistes zu werfen, und über dem Helm einen grünen Schleier aus Nesseltuch, der im Parkett wie Nebel aussieht. Unter dem Umhang trug er eine Garnitur alter Bühnenwaffen, aber das ist nicht wichtig, denn im Notfall kam er auch ohne sie aus.
Bis zu seinem Auftritt schaltete der Geist sein Helmlicht nicht an, aus Furcht, von irgendeiner Ecke im Zuschauerraum aus gesehen zu werden; heute läßt er wegen jenes Aberglaubens, von dem ich bereits gesprochen habe, den Nesseltuchschleier erst in letzter Sekunde fallen. Aber als Guthrie Boyd die Rolle spielte, existierte dieses Verbot noch nicht, und ich erinnere mich lebhaft daran, wie er in den Kulissen stand und auf seinen Auftritt wartete: eine große, bärenstarke, rätselhafte Gestalt, so wenig übernatürlich wie ein buschiges, sieben Fuß hohes Immergrün, das von einer grauen Persenning bedeckt war.
Aber wenn Guthrie das winzige Licht einschaltete, leise und geschmeidig auf die Bühne trat und seine hohle, leicht gequält klingende Stimme erhob, überfiel alle ein schreckliches, grauenerregendes Schaudern, das sogar uns hinter der Bühne in seinen Bann schlug, als hörten wir Worte, die in Wirklichkeit über die schwarzen, unendlichen Golfströme aus dem Jenseits zu uns herübertönten.
Auf jeden Fall war Guthrie ein großer Geist und vielleicht sogar ein bißchen besser als in seinen anderen Rollen – zumindest in diesen ersten Wochen, als er noch nicht trank. Er schien sehr glücklich über sein gelungenes Comeback zu sein, obwohl uns aus seinen Augen bisweilen irgend etwas Schweres und Totes anstarrte: Der alte Alkoholiker fragte sich offenbar, was all dieser ermüdende, nüchterne Unsinn eigentlich zu bedeuten habe. Er freute sich ganz besonders auf unseren dreitägigen Aufenthalt in Wolverton, der damals noch zwei Monate entfernt in der Zukunft lag. Der Grund war, daß seine beiden Kinder, die inzwischen natürlich längst verheiratet waren, in Wolverton lebten. Ich bin sicher, daß er großen Wert darauf legte, ihnen in eigener Person seine Rehabilitation vor Augen zu führen, in der Hoffnung, auf diese Weise eine Versöhnung herbeizuführen.
Aber dann kam seine erste Vorstellung als Othello. (Der Prinzipal, unser eigentlicher Star, spielte immer den Jago, eine genauso große, aber eben nicht die Titelrolle.) Guthrie war natürlich schon zu alt für den Othello, und außerdem stand es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten – die Zeit des Trinkens hatte ihren Tribut gefordert, die Probenarbeit und die ersten allabendlichen Auftritte in acht verschiedenen Stücken nach Jahren fern vom Theater hatten ihn erschöpft. Aber irgendwie brodelte der alte Vulkan immer noch in ihm, und er gab sich alle Mühe, eine ausgezeichnete Aufführung zustande kommen zu lassen. Am nächsten Morgen schwärmten die Zeitungen von ihm, und eine Besprechung stellte ihn sogar über den Prinzipal.
Das war es, unglücklicherweise. Die Glorie seines Triumphes war zuviel für ihn. Am nächsten Abend – wieder als Othello – war er betrunken wie ein Stinktier. Zwar erinnerte er sich noch der meisten seiner Verse, aber er verhaspelte sich des öfteren und torkelte hin und her. Um nicht hinzufallen, stützte er sich mit schwerer Hand auf die Schultern seiner Mitspieler, ja er vergaß sogar während der ersten zwei Akte, seine falschen Zähne einzusetzen, so daß seine Stimme breiig klang. Um das Maß voll zu machen, begann er in der letzten Szene noch, Gertrude Grainger zu würgen, bis die bereits bläulich angelaufene Desdemona, vom Publikum ungesehen, ihm ein Knie in die Weichteile stieß; dann, nachdem er sich selbst erstochen hatte, warf er den Requisitendolch hoch in die Luft, der in zwei trägen Umdrehungen wieder herunterkam und in den Bühnenbrettern steckenblieb. Die stumpfe Dolchspitze bohrte sich tief in das weiche Holz des Bühnenbodens, keine drei Fuß von Monica entfernt, die Jagos Frau Emilia spielte und an diesem Punkt des Dramas bereits tot auf der Bühne lag, ermordet von ihrem schurkischen Gatten – und die wirklich tot hätte sein können, wenn der Dolch nur einer etwas anderen Flugbahn gefolgt wäre.
Da eine dritte Vorstellung des Othello für den folgenden Abend angekündigt war, hatte der Prinzipal keine andere Wahl, als Guthrie durch Francis Farley Scott zu ersetzen, der nach seiner eigenen Ansicht den Othello ohnehin besser spielte und kaum seine Befriedigung darüber unterdrücken konnte, seine angestammte Rolle wieder zurückerobert zu haben. F.F. ein plüschweicher, lasziv dreinblickender Mohr, spielte die Rolle ohne eine zusätzliche Probe in der Tat so gut, daß ein Kritiker, der die erste und dritte Aufführung miteinander verglich, bewundernd anmerkte, daß wir nach Belieben große Rollen austauschen konnten. Er war offenbar der Meinung, dies geschähe allein aus dem Grunde, unsere Virtuosität zu demonstrieren. Selbstverständlich las der Prinzipal Guthrie die Leviten und schickte ihn zu einem Arzt, der ihm auch ohne Souffleur wegen seines Trinkens und seines schwachen Herzens einen großen Schrecken einjagte. Guthrie hätte sich sicherlich bald von seinem Rückfall erholt, wenn er nicht zwei Tage später, als wir Julius Caesar spielten, den Entschluß gefaßt hätte, sich mit einer wahrhaft aufrüttelnden Vorstellung zu empfehlen. Er bellte und grunzte und rollte mit den Augen wie in seiner besten australischen Schmierenzeit. Seine optimistische Selbstzufriedenheit zwischen den Szenen war schrecklich anzusehen. Gewiß, die Vorstellung war gar nicht so schlecht, aber alle Kritiker machten ihn nieder, und einer von ihnen sagte sogar: »Guthrie Boyd spielte Brutus – ein Bündel von Vokalen, in eine Toga eingehüllt.« Danach war Guthrie von morgens bis nachts besoffen. Der Prinzipal mußte ihm den Brutus wegnehmen, den wieder F.F. spielte, aber er wäre nicht der Prinzipal gewesen, wenn er ihn ganz fallengelassen hätte. Er teilte ihn für eine Reihe kleinerer Rollen in Othello und Julius Caesar ein und übertrug mir und Joe Rubens und manchmal auch Props die Aufgabe, den armen alten Trunkenbold im Auge zu behalten, um sicherzugehen, daß er eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung ins Theater kam – wenn möglich, nicht allzu besoffen. Oft spielte er den Geist oder den Dogen von Venedig in seinen Straßenkleidern unter dem Umhang oder der Samtrobe, aber er spielte sie. Und es waren viele Nächte, in denen Joe und ich unsere Runden durch die Hälfte aller örtlichen Bars machten, bevor wir ihn endlich aufgabelten. Der Prinzipal nannte Joe Rubens und mich manchmal spöttisch ›das amerikanische Element‹ in seiner Truppe, aber gleichzeitig verließ er sich auf uns: Ich habe gewiß nichts dagegen, so abgestempelt zu werden, denn es ist eine Freude, mit ihm zu arbeiten.