Deutschland hängt nun schon vier Tage hinter der Teilmobilmachung und drei Tage hinter der Generalmobilmachung in Rußland her. Die Zeit wird knapp. Die Tage, in denen der Kaiser und die Reichsregierung versucht haben, zwischen Habsburg und Rußland zu vermitteln, fehlen nun für die eigenen Vorbereitungen auf einen Krieg. Das Deutsche Reich kann sich ein weiteres Warten nicht erlauben. Nach Eingang der schlechten Nachricht aus Paris, daß Frankreich nicht zusagt, neutral zu bleiben und nach dem Bekanntwerden der französischen Generalmobilmachung am 1. August verkündet auch die Reichsregierung die Mobilmachung der deutschen Truppen. Deutschland hat nicht die Kräfte, gegen Rußland und Frankreich zur gleichen Zeit zu kämpfen. Es kann das vor allem nicht aus der Defensive gegen zwei zusammen zahlenmäßig überlegene Gegner.
Es kann nicht warten, bis der eine Feind „von vorne“ und der andere Feind „von hinten“ kommt. Derart in der Zange bleibt den Deutschen nur der Ausweg, den zwei Gegnern zuvorzukommen und sie nacheinander anzugreifen und zu schlagen. Deutschland kann entweder zuerst alleine Rußland angreifen. Das würde –
so schätzt man in Berlin – lange dauern und die derweil nur schwach besetzte Westgrenze der Gefahr eines französischen Angriffs aussetzen. Oder Deutschland kann zuerst versuchen, Frankreich zu besiegen, was man in relativ kurzer Zeit zu schaffen glaubt, und sich dann erst gegen Rußland wenden. So ist die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin, und so 46 Binder, Seite 56
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hat der deutsche Große Generalstab seine Aufmarschpläne für diesen schlimmsten Fall der Fälle vorbereitet.
Daß die Befürchtungen des deutschen Generalstabs nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt sich zu Kriegsbeginn, als sich erweist, daß Frankreichs Truppen nicht nur zur Verteidigung des eigenen Landes aufmarschieren, sondern von Anfang an auch für einen Angriff gegen Deutschland mit einer Offensive in Richtung auf den Oberrhein47. Da Frankreich ab dem 1. August mobil macht, die Vorbereitungen zum Krieg trifft, offensichtlich darauf wartet, daß die deutschen Truppen in Richtung Rußland abmarschieren und sich weigert, seine Neutralität zu erklären, muß man in Deutschland damit rechnen, daß Frankreich losschlägt, sobald sich Rußland regt. So ist der strategisch schlimmste Fall für Deutschland eingetreten. Am 3. August erklärt Berlin Paris den Krieg, um nicht später selbst in Frankreichs Falle zu geraten.
Gleichzeitig mit der Kriegserklärung fragt Berlin in Brüssel an, ob die belgische Regierung einen Durchmarsch deutscher Truppen gegen Frankreich durch belgisches Gebiet gestatten würde. Berlin garantiert dabei die Unversehrtheit des belgischen Gebiets und sagt zu, dem Staat Belgien alle Durchmarschkosten zu bezahlen und etwaige Schäden zu ersetzen. Die belgische Regierung lehnt das ab.
Die Nutzung belgischen Gebiets für einen eigenen Aufmarsch in einem befürchteten Krieg mit Frankreich oder sogar mit Frankreich und England ist auf deutscher Seite seit langem gedanklich in alle Verteidigungsvorbereitungen einbezogen worden. Der Große Generalstab geht von der Annahme aus, daß sich auch Engländer und Franzosen in einem Krieg nicht scheuen werden, gegen Deutschland durch Belgien, Luxemburg und Holland aufzumarschieren. So ist die komplizierte Aufmarschplanung der deutschen Heerestruppen für den Kriegsfall unter Einbeziehung des belgischen Eisenbahnnetzes vorgenommen worden.
Dies vor allem deshalb, weil man sich deutscherseits die größten Erfolgschancen gegen das französische Heer durch eine Nordumfassung entlang der Kanalküste ausgerechnet hat. Und der Weg nach Nordfrankreich führt nun einmal durch Belgien. Dieser Aufmarschplan des Großen Generalstabs ist zwar außenpolitisch töricht und ihn dann auch noch gegen den Willen der belgischen Regierung durchzusetzen, ist ein Völkerrechtsverstoß. Doch militärisch verspricht der Plan Erfolg zum Schutz des eigenen Landes, vor allem, wenn Deutschland zur gleichen Zeit nach zwei Seiten um seine Existenz kämpfen muß.
Dem Einmarsch der deutschen Truppen in das neutrale Belgien am 3. August 1914 geht ein diplomatisches Pokerspiel voraus, in dem London und Berlin mehr auf Vorteil denn auf Frieden setzen. Schon in der Nacht vom 28. auf 29. Juli versucht der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg Englands Absicht für den Fall auszuloten, daß sich der Balkankonflikt auf Frankreich und Deutschland 47 Ploetz Volksausgabe, Seite 388
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ausweiten sollte. Von Bethmann Hollweg bestellt den englischen Botschafter in Berlin, Sir Goschen, zu sich und erklärt ihm, daß Deutschland mit England Frieden halten wolle und im Falle einer Ausweitung des Krieges auf Frankreich keine Gebietserwerbungen auf französische Kosten beabsichtige. Außerdem deutet von Bethmann Hollweg an, daß Deutschland je nach Frankreichs Verhalten gezwungen sein könnte, Belgiens Neutralität für eine begrenzte Dauer zu verletzen48. Auf die Frage nach Englands Haltung und Verhalten antwortet Botschafter Sir Goschen, daß sich seine Regierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht festlegen wolle.
Am Tag nach dem Gespräch Bethmann Hollwegs mit Sir Goschen beginnt der britische Außenminister Sir Grey ein dunkles Doppelspiel. Er informiert nacheinander den deutschen und den französischen Botschafter in London über Englands Haltung. Dem deutschen, Fürst Lichnowsky, teilt er mit, daß sein Land gedenkt, nur neutral zu bleiben, solange sich der Krieg auf Rußland und Österreich beschränkt. Wenn aber Deutschland und Frankreich in diesen Krieg hineingezogen würden, könne England nicht mehr lange abseits stehen. Den Franzosen, Botschafter Cambon, läßt er verklausuliert das gleiche wissen49, so daß die französische Regierung mit Englands Waffenhilfe rechnen kann. Grey gibt Frankreich auf diese Weise diskret englisch zu verstehen, daß es im Streit der Russen, Österreicher und Serben freie Fahrt zum Krieg mit Deutschland hat. Es kann sich – so drückt das Grey aus – getrost in einen Krieg „hineinziehen“ lassen.
Tags darauf spitzt sich die Lage für die Deutschen weiter zu. Am 30. Juli macht Rußland generalmobil. Deutschland steht infolge des Vertrags mit Österreich-Ungarn automatisch gegen Rußland. Frankreich hat einen Vertrag mit Rußland und steht damit gegen Deutschland. In London weiß man, daß das Deutsche Reich nun in der Klemme steckt und zur eigenen Rettung höchstwahrscheinlich Belgiens Neutralität verletzen muß. Das ist Englands Eintrittskarte in den Krieg. In dieser deutschen Zwickmühlensituation, am 31. Juli, fordert die britische Regierung die deutsche und die französische auf, Belgiens Neutralität zu achten. Frankreich sichert das den Briten sofort zu. Deutschland fragt zurück, ob England seinerseits Neutralität und Frieden gegenüber Deutschland wahren werde, wenn es auf den Durchmarsch durch belgisches Gebiet verzichte. Nun hätte es England in der Hand gehabt, die Belgier vor dem deutschen Durchmarsch zu bewahren. Doch London, das seine Kriegserklärung an das Deutsche Reich drei Tage später mit der deutschen Verletzung der belgischen Neutralität begründet, ist nicht bereit, dem Krieg, der sich zusammenbraut, zugunsten Belgiens fernzubleiben. Außenminister Grey sagt auf diesem Höhepunkt der Krise weder Neutralität noch Frieden zu50. Die englische Regierung will die Chance nicht vergeben, das Deutsche 48 Stegemanns, Seite 361
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Reich erst mit Hilfe der Franzosen und der Russen im Landkrieg zu besiegen und dann aus den Märkten, aus den Kolonien und dem Flottenbau zu drängen.
Am 1. August 1914 tritt der schlechteste Fall der Fälle für die deutsche Seite ein.
Der Krieg mit Rußland hat sich nicht verhindern lassen. Die ersten russischen Verbände stehen bereits auf ostpreußischem Gebiet. In Frankreich wird mobil gemacht und Deutschland in der Zange kann nicht weiter warten. Die konkrete Existenzbedrohung für das Reich zwingt Kaiser, Kanzler und den Großen Generalstab, von dem umstrittenen Aufmarschplan durch Belgien notfalls ohne Billigung der Belgier Gebrauch zu machen.