Am 2. August fragt die deutsche die belgische Regierung ultimativ um die Erlaubnis, Truppen durch belgisches Gebiet nach Nordfrankreich marschieren lassen zu dürfen. Die Belgier lehnen ab. Inzwischen sind die Würfel in London längst gefallen. An diesem 2. August, noch ehe deutsche Truppen belgisches Gebiet betreten, gibt England die Mobilmachung seiner Flotte offiziell bekannt.
Die Flotte steht allerdings seit der Mobilmachungsübung am 25. Juli schon insgeheim bereit. Am gleichen Tag, dem 2. August, teilt der englische Außenminister Grey der französischen Regierung mit, daß die britische Flotte der französischen zu Hilfe kommen werde, falls die deutsche mit feindlichen Handlungen gegen die französische beginnen werde51. Außerdem hatte England den Franzosen bereits 1911 sechs Heeresdivisionen für den Fall des Krieges heimlich zugesagt. So ist Großbritannien am 2. August schon kriegsbereit und festgelegt. Als i-Punkt in diesem Intrigenspiel stellt sich Minister Grey am Tag danach, dem 3., vor das Unterhaus in London und erklärt den offensichtlich ahnungslosen Abgeordneten, England habe sich in Bezug auf den in Europa beginnenden Krieg bisher in keiner Weise festgelegt52.
Als deutsche Truppen am 3. August beginnen, durch Belgien gegen Frankreich vorzugehen, stellt London Berlin ein Ultimatum und verlangt, die Truppen unverzüglich aus Belgien zurückzuziehen. Deutschland kann auf den Durchmarsch durch das neutrale Land jetzt allerdings nicht mehr verzichten und setzt den Aufmarsch fort. Dem folgt am Tag darauf, am 4. August, die Kriegserklärung Englands an das Deutsche Reich.
England und Deutschland haben sich gegenseitig, was die belgische Neutralität betrifft, in den letzten sieben Tagen vor dem Kriegsbeginn je einmal eine Brücke zum Frieden gebaut. Doch Deutschland wollte ohne Englands
Neutralitätserklärung seinen militärischen Vorteil gegenüber Frankreich nicht verlieren, und England wollte zum Schluß nicht auf seine Chance verzichten, an einem Kriege gegen Deutschland teilzunehmen. So wird aus der serbisch-
österreichischen Auseinandersetzung auf dem Balkan in nur fünf Wochen ein europaweiter Krieg.
51 Stegemanns, Seite 366
52 Grenfell, Seite 25
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Wie groß die Skrupel der deutschen Reichsregierung sind, Belgiens Neutralität zu verletzen, drückt Reichskanzler von Bethmann Hollweg am 4. August vor dem Reichstag aus:
„ So waren wir gezwungen, uns über den berechtigten Protest der luxem-burgischen und der belgischen Regierung hinwegzusetzen. Das Unrecht –
ich spreche offen – das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gut-zumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut“.53
Die Kriegsschuld 1914
Deutschland verfolgt 1914 keine eigenen Kriegsziele. Es hat allerdings durch Kaiser Wilhelm II. frühe und bedingungslose Rückendeckung für Österreich zum Kriegsausbruch beigetragen. Doch nach dieser ersten unbedachten Äußerung von Bündnistreue versuchen Kaiser und Regierung nacheinander erst die Russen, dann die Franzosen und zum Schluß die Briten von einem Kriege miteinander abzubringen. Rußland will nicht demobilisieren. Frankreich lehnt es ab, sich mit Deutschland auf Gegenseitigkeit in Ruhe zu lassen, und England denkt nicht daran, Deutschland für die Schonung Belgiens Frieden zuzusichern.
Die deutsche Kriegserklärung an die Russen ist die Konsequenz des
vergeblichen Versuchs, Rußland zur Mäßigung zu zwingen. Die
Kriegserklärung an Frankreich und der Bruch der belgischen Neutralität sind die fast zwangsläufigen Folgen des ersten Schrittes gegenüber Rußland. Die Gründe, die Deutschland für den Ersten Weltkrieg liefert, liegen tiefer. Es sind dies die Übernahme Elsaß-Lothringens 1871, die Wirtschafts- und
Handelsexpansion, das Flottenbauprogramm, die Bagdadbahn und die deutschen Erdölforderkonzessionen in dem Land, das heute Irak heißt.
Rußland setzt 1914 bewußt auf Krieg. Innerstaatliche Probleme, die Chance bei einem Sieg den erhofften Zugang zum Mittelmeer zu gewinnen und das angemaßte Patronat über alle Slawenvölker, verleiten die russische Regierung, Serbien offen gegen Österreich-Ungarn zu unterstützen, mobil zu machen und ohne Warnung oder Kriegserklärung in Deutschland einzumarschieren.
Frankreichs Kriegsziel seit 1871 ist, sich Elsaß-Lothringen zurückzuholen. Es schafft vor dem Krieg diplomatisch das, was Deutschland aus einem Mangel an Einsicht und Vermögen unterläßt. Frankreich sucht sich Verbündete für eine Auseinandersetzung, die sich irgendwann in Zukunft – so nimmt man in Paris an – mit dem Deutschen Reich ergeben wird. Frankreich stellt – wie man das nennt – die Verbündeten zur Schlacht. Der französische Bündnispolitik wohnt 53 Binder, Seite 62
50
eine Sprengkraft inne, die 1914 explodiert. Frankreich nimmt Deutschland mit dem Französisch-Russischen Zweibund so in eine Zange, daß das Deutsche Reich bei Spannungen und Kriegsgefahr mit Frankreich oder Rußland gezwungen wird, militärisch den ersten Schritt zu tun, wenn es dem Risiko des eigenen Untergangs mit einiger Chance auf Erfolg entgehen will. Frankreichs Zange und Deutschlands Zugzwang wären im Falle einer Krise wie 1914 nur zu lösen, wenn Frankreich oder Rußland dann erklärten, daß sie nicht zu den Waffen greifen wollten. Im Sommer 1914 aber wollen weder Frankreich noch Rußland Frieden halten. Beide haben ihre „Beute“ fest im Auge. Frankreichs Zusage an die russische Regierung im Jahre 1912, es in jedem Falle militärisch zu unterstützen54
und Poincarés Besuch in Petersburg am 20. Juli 1914 verleiten die „Kriegspartei“ in Rußland, Ende Juli 14 gegenüber Deutschland hoch zu pokern. Frankreich nutzt die von ihm selbst bestärkte harte Haltung Rußlands und ergreift die Chance, die sich mit der deutschen Anfrage zur eigenen Neutralität ergibt. Es weigert sich, der deutschen Reichsregierung Frieden zuzusichern, macht weiterhin mobil und zwingt die Deutschen, sich entweder zur Abwehr Rußlands nach Frankreich hin von Truppen zu entblößen oder selber schnellstmöglich den Krieg mit Frankreich zu eröffnen. So heftet Frankreich Deutschland in einer wahren
„Meisterleistung“ die Schuld der Kriegseröffnung an.
England drängt nicht direkt zum Krieg, doch es glaubt, seine Weltmarktposition, sein Kolonialreich und die Seeherrschaft, die beides schützt, gegen den Machtzuwachs des Deutschen Reichs verteidigen zu müssen. Die britische Regierung treibt ein auf lange Zeit hin angelegtes Doppelspiel und nutzt die Chancen, die sich daraus ergeben. London vermittelt bei allen Krisen in Marokko und allen Balkanstreitigkeiten – so auch 1914 – und stärkt dabei Frankreich den Rücken gegenüber Deutschland. Zur Außenpolitik der Briten gehören auch die Zusage von 1911, Frankreich notfalls mit sechs Heeresdivisionen gegen Deutschland beizustehen und die Versicherung vom 2. August 1914, daß Englands Flotte auf der Seite Frankreichs kämpfen werde. Diese zwei geheimen Zusicherungen der Waffenbrüderschaft in einem eventuellen Krieg haben die gleiche
verhängnisvolle Wirkung wie Kaiser Wilhelms II. „Blankoscheck“ an
Österreich-Ungarn. Frankreich pokert hoch und riskiert den Krieg um Elsaß-
Lothringen.
Als Deutschland in der Klemme zwischen Rußland und Frankreich steckt und England um Neutralität und den Fortbestand des Friedens bittet, weigert sich die britische Regierung, beides zuzusagen. Sie weigert sich auch dann noch, als Deutschland dafür bietet, auf den Durchmarsch durch Belgien zu verzichten.
England wartet statt dessen, bis Deutschland den Versuch macht, der eigenen Gefahr durch einen Angriff auf Nordfrankreich mit Anmarsch durch das neutrale Belgien zu entkommen. Dann schnappt die Falle Englands zu. Großbritannien 54 Grenfell, Seite 84