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Die Wurzel, die als zweite nach außenhin erkennbar wird, ist die staatstragende Idee der Sowjetunion, der Bolschewismus oder Kommunismus. Diese Klassen-ideologie wird in Sowjetrußland als Befreiungslehre für unterdrückte Gesell-526

schaftsschichten und für kolonial gehaltene Völker aufgefaßt. Von dieser Lehre geht eine Missionspflicht gegenüber den ausgebeuteten Menschen in den kapitalistischen Staaten und in den Kolonien aus. Lenin hat diesem Missionsdrang mit der Idee vom „Endsieg des Sozialismus über den Kapitalismus“ durch eine „Revolution im Weltmaßstab“ ein außenpolitisches Ziel gesetzt, dem eine große Sprengkraft innewohnt. Dies Ziel bedroht Gesellschaften und Staaten mit anderen Weltanschauungen. Der Konfliktstoff „Ideologie“ wird allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur direkten Bedrohung der kapitalistischen Staaten und Kolonialmächte. Vor dem Krieg entzweit der Unterschied der Weltanschauungen nur die Sowjetunion und Deutschland ab 1933. Hitlers Nationalsozialismus als Konkurenzmodell zum Kommunismus wirkt aggressiver auf den sowjetischen Bolschewismus als die bis dahin eher indifferenten Lebens- und Gesellschaftsi-deen in den anderen kapitalistischen Staaten. So leben das Deutsche Reich und die Sowjetunion seit 1933 in steter latenter Gegnerschaft, allerdings ohne daß das den Zweiten Weltkrieg auslöst.

Zum Kriegsausbruch trägt der Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus jedoch in indirekter Weise bei. Stalin ist 1939 bereit, an einem Kriege teilzunehmen, um „Ostpolen“ wiederzugewinnen. Das ist die Oberfläche. Darunter liegt als zweite Schicht sein Wille, mit einem neuen Kriege in Europa die Gesellschaften in den kapitalistischen Staaten durch Kriegselend und Kriegsfol-gen zu verändern und sie für die Idee des Kommunismus empfänglicher zu machen. Die zwei Ziele Stalins 1939 sind auf kurze Sicht „Ostpolen“ und aufweite Sicht die Ausbreitung des Kommunismus in Westeuropa. So setzt er zunächst auf das „Pferd“ der Briten und Franzosen, die seine Waffenhilfe brauchen. Er ködert beide mit dem Angebot von 120 Divisionen für einen weiteren Krieg mit Deutschland. Er bestätigt sie darin, statt Danzig an das Deutsche Reich zurückzugeben, lieber einen Krieg zu wagen. Als Polen diese Art von Kriegsallianz zunichte macht und als erkennbar wird, daß die Briten und Franzosen den Sowjets die Hauptlast dieses Krieges überlassen wollen, setzt Stalin auf das „Pferd“ der Deutschen. Er sichert Hitler Handlungsfreiheit zu, läßt sich – wenn auch nur verschlüsselt – im Geheimen Zusatzprotokoll die Rückeroberung der verlorenen Randgebiete des alten Zarenreichs genehmigen und streicht dann ohne eigene Opfer „Ostpolen“ ein.

Doch Stalins Rechnung geht zunächst nicht völlig auf. Der deutsche Feldzug gegen Polen ist zu schnell beendet, und es kommt 1939 nicht zu dem erhofften Erschöpfungskrieg der kapitalistischen Staaten Deutschland gegen Frankreich -

England. So sind am Ende der Auseinandersetzung um Polen weder die Menschen in den kapitalistischen Staaten reif für eine bolschewistische Revolution, noch kann die Sowjetunion – wie Lenin das vorausgedacht hat – als letzte starke Großmacht in Europa die kapitalistischen Staaten „an der Gurgel packen“, um bei Lenins Bild zu bleiben. Dazu muß die Sowjetunion noch einmal die Seite wechseln und selber furchtbar bluten.

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Die dritte Wurzel, von der zuvor die Rede war, ist Rußlands strategische Tradition. Peter der Große hat damit begonnen, Rußland zu einer Seemacht auszubauen. Über ein Jahrhundert sind die Expansionsinteressen des Zarenreichs gegen die Interessen der Japaner in Fernost, der Briten im Mittleren Osten und der Osmanen am Ausgang des Schwarzen Meeres gestoßen. Der Drang zu größerer Weite und zum Handel auf den Meeren hat in Rußland eine lange Tradition. Da hinzu gesellt sich nun der Wille, in den Kolonien fremder Staaten politisch auf die Massen Einfluß zu gewinnen. Handel, Machtentfaltung und „Missionsdrang“ brauchen offenen Zugang zu den Meeren und dazugehörend eine Flotte. So beginnt Stalin 1935, die Sowjetunion wieder zu einer Seemacht ersten Ranges mit einer großen Kriegsmarine aufzubauen. Zugang zum Atlantik in Europa bieten die eisfreien Häfen Finnlands und der Baltenstaaten. Da liegt es in der Tradition der Strategie der Russen und in der Logik ihrer Flottenpolitik, daß sie eigene Ostseehäfen brauchen. So muß Stalin dafür sorgen, daß die territoriale Nachkriegsordnung in Europa eine Änderung erfährt. Dazu braucht er die Billigung oder die Lähmung der großen Staaten in Europa, und die erkauft er sich mit Allianzver-sprechen bei den Briten und Franzosen und dann bei den Deutschen. Auch bei den Verhandlungen mit den Engländern und Franzosen hatte sich Stalin die In-terventionsrechte gegenüber Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien als Gegenleistung für seine Waffenhilfe gegen Deutschland zusichern lassen. Stalin will die für Sowjetrußland angestrebten Territorialgewinne im Schatten eines Kriegs erreichen, den Briten, Deutsche und Franzosen miteinander führen. Zu diesem Zwecke kommt der Streit um Danzig und die deutsche Minderheit in Polen gerade recht. Stalin hält seine Gedanken für ein Geheimes Zusatzprotokoll, das ihm „Ostpolen“ und die Baltenstaaten sichern soll, so lange vor Hitler und von Ribbentrop geheim, bis diese mit dem Rücken an der Wand den Handel unterschreiben oder vor den Polen weichen müssen.

Die sowjetische Führung versucht kein einziges Mal, bei den Differenzen zwischen den Deutschen und den Polen zu vermitteln und damit dem Frieden eine Chance zu geben. Stalin setzt von Anfang an auf einen Krieg, von dem er annimmt, daß er die territoriale Ordnung Osteuropas zum Vorteil der Sowjetunion verändert.

Der Beitrag der USA zum Kriegsausbruch

Die große Macht, die 1939 noch nicht direkt in den Krieg eingreift, darf hier nicht ausgelassen werden. Die Vereinigten Staaten von Amerika tragen ihre Mitschuld am Desaster von Versailles und daran, daß das Danzig-Korridor-Problem nicht friedlich aus der Welt geschafft wird, ehe es zum Anlaß eines neuen Weltkriegs wird. Doch unter dieser Danzig- und Versailles-Frage liegt ein anderer Grund, der die USA zu Kollisionen mit fremden Staaten treibt. Es ist der An-528

spruch der Nordamerikaner auf die Ausbreitung ihrer Macht und ihrer Wertvorstellungen. Begonnen mit der Ausbreitung über den nordamerikanischen Kontinent, fortgesetzt mit dem Herrschaftsanspruch über beide Amerika in der Monroe-Doktrin, weitergeführt mit der „Befreiungseroberung“ der spanischen Kolonien in der Karibik und im Pazifik und der Unterstützung der Briten und Franzosen im Ersten Weltkrieg mündet diese Ausdehnung in einen zweiten großen Krieg, der die Welt von der „Krankheit der drei Schurkenstaaten“ Deutschland, Italien und Japan befreien soll. Die eine Seite dieses Tuns ist der Kreuzzug zum Schütze von Bedrohten, die andere ist die Ausdehnung von Macht, Markt und Moral, wobei die letztere aus der Sicht von Nichtamerikanern vor allem ihre Weltanschauung ist.

So schützen die Amerikaner erst ihre Siedler, dann die Länder Südamerikas und dann die Staaten Westeuropas und im Pazifik. Nordamerika fühlt sich dabei immer auf der Seite der Bedrohten und des Rechts. Als Nebenprodukte bleiben erst ein eroberter Kontinent, dann die Vorherrschaft über Südamerika und der Besitz der ehemals spanischen Kolonien, und nach 1919 als letzter Schritt auf diesem Weg die wirtschaftliche Durchdringung Europas und Chinas durch die USA.

Amerika, das hoch verschuldet in den Ersten Weltkrieg geht, steht nach dem Kriege als der größte Gläubigerstaat der Welt da. Es ist nicht auszumachen, ob hier der moralische Anspruch die Machtausdehnung angetrieben hat, oder ob der Machtanspruch die Moral als Etikett mißbraucht hat, oder ob sich beides in den USA auch nur in profitabler Weise zueinanderfügt.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stehen sich die USA und Deutschland ohne Streit und Spannung gegenüber. Amerika befindet sich von 1914 bis 1916 nur mit seinem Nachbarn Mexiko in einem bewaffneten Konflikt. Vor seiner Wiederwahl zum Präsidenten verspricht Wilson den Menschen seines Landes, die USA aus dem fernen Krieg in Übersee herauszuhalten. Doch Amerika beliefert die Gegner Deutschlands über See mit Lebensmitteln, Rohstoffen, Munition und Waffen, und Deutschland versucht, die Versorgung seiner Gegner über das Meer ab Februar 1917 mit einem unbeschränkten U-Boot-Krieg zu unterbinden. Als ebenfalls im Februar 1917 das Kaiserliche Rußland in einer Revolution versinkt und als Ostfront gegen Deutschland ausfällt, wird der Krieg der Europäer plötzlich zum Risiko für Staat und Wirtschaft in den USA. Wenn Deutschland über die verbliebenen Gegner siegen sollte, wären alle Außenstände und Kredite in Frankreich und in England verlorene Geschäfte, und die USA wären nach dem Krieg der Europäer noch ärmer als zuvor. Die Gefahr, die Rußlands Niederlage für die Wirtschaft in den USA heraufbeschwört, der unbegrenzte U-Boot-Krieg auf dem Atlantik und ein zunächst geheimes, dann aber doch bekanntgewordenes Unterstützungsangebot der Deutschen an die Mexikaner führen dazu, daß Wilson am 2. April 1917 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt und kurz darauf auch Österreich-Ungarn.