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Die in Versailles konstruierte Verteidigungsunfähigkeit des Reichs mit einer ungeschützten Rheinlandgrenze gegenüber Frankreich und mit einem Reichsheer, das den Heeren der Nachbarländer 1:12 an Friedensstärke und etwa 1:100 für den Fall des Krieges unterlegen ist, ist angesichts der Einmärsche der Polen, Franzosen, Belgier und Litauer in das Reichsgebiet kein auf die Dauer für die Deutschen hinnehmbarer Zustand. Die Aufrüstung von 51 Friedensdivisionen plus der etwa gleichen Zahl an Reservedivisionen und der rasche Aufbau von Luftstreitkräften für die Zeit, in der das Heer noch nicht voll abwehrfähig ist, erscheint den meisten Bürgern Deutschlands zu der Zeit, da dies geschieht, als Gebot der Stunde und nicht als Omen eines von Deutschland ausgelösten neuen Krieges. Doch für die Siegermächte ist schon die Ankündigung der deutschen Wiederaufrüstung ein Bruch des „Friedens“ von Versailles und ein Alarmsignal.

Erst recht wird der ab 1935 offenkundige Wehrmachtswiederaufbau in

Washington, Paris und London so gesehen.

Frankreich und die USA haben es versäumt, die von Hitler 1933 und 1934 angebotenen Begrenzungen der deutschen Selbstschutzfähigkeit anzunehmen und vertraglich festzuschreiben und dafür mit einer Begrenzung der eigenen Rüstung zu bezahlen. Statt dessen haben weder die Franzosen Teile ihrer Land- und Luftstreitkräfte opfern noch die Amerikaner ihre enorme Marinerüstung bremsen wollen. Jeder hatte „seine guten Gründe“. Hitler hat immerhin mit Großbritannien vertraglich eine Unterlegenheit der deutschen Kriegsmarine 1:3 vereinbart 535

und sich solange vertragsgetreu verhalten, wie er damit rechnen konnte, daß England nicht erneut als Feindstaat auftritt.

Während seiner ersten Herrschaftsjahre erscheint Hitler, was die äußere Sicherheit betrifft, der eigenen Bevölkerung infolge seiner öffentlichen Reden als ein

„Mann des Friedens“. Er läßt das deutsche Volk bis zum September 1938 nicht erkennen, daß er bereit ist, die Wehrmacht statt zum Schutz des Reiches auch zur Durchsetzung seiner Ziele einzusetzen. Im Bewußtsein der Bürger und Soldaten dient der Wehrmachtswiederaufbau alleine der Verteidigung des eigenen Landes.

1933 ist die Geschichte – so wie ich glaube – noch ergebnisoffen. Die Entwicklung, wie sie 1939 in den Zweiten Weltkrieg mündet, bestätigt am Ende die Befürchtungen der Siegermächte, die den Deutschen allgemein seit 1919 und Hitler im besonderen seit 1933 unterstellen, auf einen neuen Krieg und auf die Weltherrschaft hingewirkt zu haben. Doch in ihrer Furcht vor Hitler und den Deutschen haben die Siegerstaaten die Szenarien selbst geschaffen, in denen Hitler später zur Gewalt greift, statt die Probleme mit Geduld und langem Atem anzugehen. Auch die Lektion, daß ihm Geduld und langer Atem allein nicht weiterhelfen, lernt Hitler von den Siegermächten.

Das Verbot der Reichsverteidigung im Versailler Vertrag, die zugestandene Mi-nimalarmee, die ungeschützte Rheinland-Grenze, die Angriffe der Polen, Franzosen, Litauer und Belgier auf das Reichsgebiet, die Abtrennung deutscher Landesteile entgegen dem Votum der betroffenen Bevölkerung, die Wegnahme der deutschen Kolonien und Auslandsbesitzungen an Geld, Bergbau- und Erdölkonzessionen, die Umkreisung Deutschlands mit einem Netz von Militärverträgen und nicht zuletzt das französische Gerede vom „Flugzeugträger Tschechoslowakei“ im Rücken Deutschlands sind die Tagesordnungspunkte, die Hitler für die nächsten Jahre für sein Arbeitspensum hält.

Der Diktator hat mit der Besetzung der Tschechei und dem ihr aufgezwungenen Protektorat moralisch, menschlich und völkerrechtlich ein Verbrechen an den Tschechen begangen. Die Siegerstaaten, die dies allesamt verurteilen, greifen hier nicht ein, obwohl sie das Recht und die Möglichkeiten dazu hatten. Nach ihrem Nichtstun herrscht wieder Friedenspflicht. Wenn dies nicht so gewesen wäre, hätten auch andere Staaten das Recht gehabt, jederzeit neue Kriege gegen England oder Frankreich zu entfesseln, um dritte Staaten von den ihnen aufgezwungenen Protektoraten zu befreien oder Kriege anzufangen, um alte Rech-nungen zu begleichen. Gleiches Recht für alle.

Trotz dieser Friedenspflicht entzündet sich an Danzig, den exterritorialen Verbindungen nach Ostpreußen und der Behandlung der deutschen Minderheit in Polen sechs Monate danach der Zweite Weltkrieg. Die gegen ihren Willen vom Mutterland getrennte Bevölkerung der Hansestadt Danzig will an Deutschland angeschlossen werden. Die Menschen in Ostpreußen wollen Verkehrswege für den Handel und die Reisen von ihrem eigenen Landesteil in das Hauptgebiet des 536

eigenen Staates zur Verfügung haben, auf denen sie von polnischen Schikanen in Zukunft unabhängig sind. Und die in Westpreußen, Posen und Ost-Oberschlesien verbliebenen Deutschen wollen frei von Drangsal, Diskriminierung und Verfolgung leben. Die Polen ihrerseits wollen keinen Meter uralten polnischen Gebietes und keines ihrer Rechte opfern, und sie erwarten Loyalität von ihren Bürgern deutscher Muttersprache. Das ist der Streitwert, um den es sich im Frühjahr 1939 handelt.

Hitler ist der subjektiven Ansicht, daß er den Polen bereits sehr weit entgegenge-gangen ist, als er 1934 die Polenpolitik seiner 16 Vorgängerregierungen verwor-fen und seither keine Ansprüche mehr auf die Rückgabe von Westpreußen, Posen und Ost-Oberschlesien gestellt hat. Seit dem Dezember 1938 und seinem Teschen-Einverständnis glaubt er außerdem, die deutsch-polnischen Probleme auf der Basis einer Gebietsanerkennung für Westpreußen – Posen – Ost-Oberschlesien gegen Danzig und die exterritorialen Verkehrswege erledigen zu können. Ab dem 24. Dezember 1938 heißt sein Angebot „Anerkennung gegen Danzig plus einen Friedensvertrag für 25 Jahre“. Am 5. Januar 1939 bringt Hitler sein Angebot auf eine neue Kurzform: „Danzig kommt zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen“.

Zu dieser Zeit, am 26. Januar 1939, und damit noch bevor Hitler seinen Sündenfall mit der Tschechei begeht und einen Kriegsgrund liefert, schüren der franzö-

sische Außenminister Bonnet und der Ministerpräsident Daladier in der Pariser Nationalversammlung mit ihren Reden die Glut, auf der sich bald der Krieg entzündet:

„Im Falle eines Krieges werden. ... alle Kräfte Großbritanniens Frankreich zur Verfügung stehen und genauso alle Kräfte Frankreichs Großbritannien.“

Und an die Adresse Polens gerichtet:

„..., daß es gelte, den Forderungen gewisser Nachbarn ein kategorisches Nein entgegenzusetzen.“

Daladier und Bonnet wollen keine Danzig-Lösung und keine Aussöhnung zwischen den Deutschen und den Polen. Beide wollen offensichtlich wieder Krieg mit Deutschland.