in beiden Ländern14. Großbritannien rüstet dementsprechend von 43 im Jahre 1901 auf 85 im Jahre 1914, um den two-power-standard einzuhalten. England versucht zwar, der Aufholjagd der Konkurrenten durch einen Qualitätssprung zu entkommen, doch auch das will nicht gelingen.
Ab 1904 wird auf Englands Werften ein neuer Typ von Großkampfschiff auf Kiel gelegt, die sogenannte Dreadnought-Klasse mit höherer Geschwindigkeit, stärkerer Panzerung und leistungsfähigerer Bordartillerie als auf bisherigen Schiffen. Doch der „Dreadnought-Sprung“ der Royal Navy bringt nicht den Vorsprung, wie erwartet. Die USA ziehen noch im gleichen Jahre nach; Deutschland, Frankreich, Japan und Italien ein bis drei Jahre später.
Für Großbritannien wird dieses Flottenrüsten teuer, und London muß politisch einen Ausweg finden. Die Suche nach dem Weg geht viele Spuren. Die erste Spur, der England nachgeht, führt direkt nach Deutschland. Die britische Regierung versucht mehrmals zwischen 1898 und 1901, die deutsche auf dem Verhandlungswege vom Kriegsschiffbauen abzubringen. Deutschland fordert als Gegenleistung ein britisch-deutsches Bündnis, das England nicht bereit ist einzugehen. Das fördert deutscherseits die Überzeugung, daß man mehr Schiffe haben müsse, um für ein solches Bündnis reif und interessant zu sein. 1907, auf einer Haager Abrüstungskonferenz, bemühen sich die Briten ein weiteres Mal vergeblich, dem deutschen Kriegsschiffbau vertraglich Fesseln anzulegen. 1908
und 1912 besuchen der englische König Edward VII. und zwei Kabinettsmitglieder den deutschen Kaiser und die Marineleitung, um sie davon zu überzeugen, daß der Schlachtschiffbau in Deutschland eingestellt oder zumindest gedrosselt werden müsse15. Da England zu der Zeit vertraglich schon im Gegnerlager steht und auch nicht bereit ist, auf deutschen Wunsch einen deutsch-englischen Neutralitätsvertrag zu schließen, gibt es für die deutsche Reichsregierung und den Kaiser vordergründig keinen Anlaß, von der 60 %-
Flotte abzusehen und den Schiffsbau einzustellen.
Das Ende dieser ersten Spur führt geradewegs zur zweiten. England sucht den Interessenausgleich mit den bisherigen Seemächten Nummer zwei und drei, mit Frankreich und mit Rußland. Es gibt – wie schon beschrieben – mit beiden Ländern einen Abgleich ihrer kolonialen Interessen und 1904 die Entente mit den Franzosen und 1907 den englisch-russischen Vertrag. So ist Deutschland ab 1907
von einer „Triple-Entente“ Frankreichs, Großbritanniens und Rußlands einge-14 MGFA, Marine, Seite 224
15 MGFA, Marine; Seiten 263 ff
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kreist, die sich 1914 nach dem Mord von Sarajewo auf geschickte Weise Ball nach Ball zuspielt. Damit ist der Warnschuß von Deutschlands Flottenpolitik nach hinten losgegangen.
Die deutsche Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg sieht im deutschen Flottenrüsten einen großen Teil der Schuld des Kaisers und des Admirals von Tirpitz am Kriegsausbruch des Ersten Weltkriegs. Deutschland – so die Be-gründung – habe Großbritannien mit seinem Flottenbau zu diesem Krieg herausgefordert. Hier folgen deutsche Wissenschaftler den Argumenten der Sieger von 1918. Die wirklichen Herausforderungen der Vorkriegsjahre heißen aber deutsche Wissenschaft und Technologie, Wirtschaftswachstum und Konkurrenz auf allen Märkten. Der deutsche Flottenbau dagegen ist keine ernste Konkurrenz für England, auch wenn er den Briten Schwierigkeiten macht.
Der Bau der Tirpitz-Flotte mit den vier Zielen: Schutz der deutschen Fischerei und Schutz des Handels, Brechen von Blockaden und Bündnisfähigkeit mit Großbritannien, ist dennoch legitim gewesen, doch angesichts des Gegenspielers England unklug. Der Flottenbau auf Deutschlands Werften hat für die Eliten in Großbritanniens Wirtschaft, Politik und Militär Symbolkraft. Er zeigt unüber-sehbar – was die Eliten vorher längst begriffen haben –, daß Deutschland nun freie Konkurrenz und gleiche Rechte auf dem Erdball fordert.
Zu einer echten Seemacht gehören außer einer Flotte auch strategisch-geographische Positionen, von denen aus die Flotte wirken kann. Großbritannien besitzt selbst ein Stück Atlantikküste und hat ansonsten weltweit Auslandsstützpunkte zwischen Sydney und Gibraltar. Es kann von dort aus eine Marine fuhren und versorgen. Es kann von da aus seine Handelsflotte schützen und anderen Ländern ihre Handelsrouten sperren. Dieser zweite Faktor, der erst aus einer Flotte eine Seemacht werden läßt, fehlt Deutschland völlig. Das Deutsche Reich sitzt seestrategisch in der Nordsee fest. Der Aus- und Zugang von und zu den deutschen Marinehäfen Kiel und Wilhelmshaven kann jederzeit durch eine „enge Blockade“ in der Nordsee, eine „weite Blockade“ an den Nordseeausgängen oder eine
„strategische Blockade“ auf dem Atlantik abgeschnitten werden. Wenn Deutschland Großbritannien auf den Meeren hätte gefährlich werden wollen, hätte es eine Atlantikflotte von der Größe der Royal Navy bauen und Häfen an der Atlantikküste haben müssen. Dies haben weder Kaiser Wilhelm II. noch die Reichsregierung noch von Tirpitz jemals angestrebt. Die „Risiko-Flotte“ ist für die Seeschlacht in der Nordsee konzipiert und nicht für einen Krieg um Englands Kolonialreich. Darin liegt von Tirpitz' Fehler, denn seine Flotte kann Großbritannien im Ersten Weltkrieg niemals wirklich schaden. Das alles wissen Englands Seestrategen, und trotzdem beharren die britische Regierung und der Kö-
nig vor dem Ersten Weltkrieg darauf, daß Deutschland Großbritannien bedroht.
Die Bedrohungstheorie hat eine zweite schwache Seite, und das wird in der Gesamtschau aller Flotten sichtbar. Schon vor Beginn des ersten deutschen Flotten-25
bauprogramms beginnen England, Rußland, Frankreich, Japan und die USA, ih-re Flotten aufzurüsten. So findet Deutschlands Flottenausbau im Rahmen eines internationalen Rüstungswettlaufs statt. Die Zunahme deutscher Schiffe relativiert sich dadurch fortlaufend durch die Parallelentwicklung der anderen Marinen. Deutschlands Flotte muß sich also stets im Kontext mit den Flotten jener Staaten sehen, die sich vertraglich gegen das Deutsche Reich verbündet haben.
1914 stehen Deutschlands 45 Schlachtschiffen 150 Schiffe in den Flotten Ruß-
lands, Englands und Frankreichs gegenüber. Seit 1907 baut Rußland außerdem die Ostseeflotte aus und bindet Teile der deutschen Marine, die dadurch nicht mehr gegen England zur Verfügung stehen. Und Frankreich übernimmt ab 1912
die Sicherung des Mittelmeeres für England und setzt damit die britische Mittel-meerflotte für den Einsatz in der Nordsee frei. Auch von daher ist der Tirpitz-Plan ein Fehlschlag. Zu keinem Zeitpunkt vor dem Ersten Weltkrieg gewinnt die deutsche Kriegsmarine eine Stärke, die England ernstlich hätte fürchten müssen.
Doch aus Englands Perspektive sieht das anders aus.
Aus einer Mischung von Missionsgefühl und Sinn für die Geschäfte fühlen sich die Elite und das Volk in England verantwortlich für ein Weltreich, daß sie in mühevollem Kampf erworben und über drei Jahrhunderte mit Erfolg zusammen-gehalten haben. Das „Recht“, die Nummer eins zu sein, und dieses notfalls zu verteidigen, ist für die Briten ein Naturrecht jenseits aller Zweifel. Zu diesem Grundverständnis gehört es, keine Konkurrenz zu dulden, weder auf den Meeren noch auf dem Kontinent Europa. Und Konkurrenz kann man nur bremsen, solange sie noch unterlegen ist. Daraus hat sich in Jahrhunderten die Strategie der
„balance of power“ entwickelt. Sie sorgt dafür, daß kein Staat in Europa mehr Macht entwickeln kann, als eine andere Macht, die sie in Schach hält. Gegen diese britische „Spielregel“ verstößt das Deutsche Reich ab 1902, als die Marine des Kaisers größer wird als die des Zaren von Rußland. Des weiteren zwingt der deutsche Flottenbau die Briten, sich mit Frankreich und Rußland zu arrangieren und damit Handlungsfreiheit aufzugeben. Er zwingt sie, den Schutz der See- und Handelswege durch das Mittelmeer an Frankreich abzugeben. Und zu guter Letzt bedroht die deutsche Kriegsmarine Englands Nordseeküste. Daß die Royal Navy16 dies genauso mit der deutschen Nordseeküste tut, wird moralisch nicht dagegen aufgewogen.