Man vermutet, daß die Venusoberfläche mit großen Meeren und sumpfigem Festland bedeckt ist. Daß auf diesem Planeten Leben existiert, wird für wenig wahrscheinlich gehalten. Ich habe die Worte ›Spektrographen der Erde und ›Astronomen der Erde‹ absichtlich betont, denn auf unserem Schiff hat die Astronomie wesentliche Berichtigungen an diesem Bild vorgenommen.“
Er sah dabei Paitschadse an, auf dessen Gesicht ein Lächeln lag.
„Die Spektralanalyse“, fuhr Belopolski fort, „hat auf der Erde einen Feind. Das ist unsere Atmosphäre. Sie hemmt und verzerrt das Licht der Himmelskörper, die einzige Quelle, aus der wir Erkenntnisse über die physikalische Natur der Sterne und Planeten schöpfen. Der Ozon in der Erdatmosphäre läßt zum Beispiel keine ultravioletten Strahlen durch, schränkt also das erhaltene Spektrum ein.
Die Struktur der Erdatmosphäre ist noch nicht restlos erforscht, daher die Ungenauigkeit unseres Wissens. Im Observatorium unseres Schiffes herrschen andere Bedingungen. Atmosphäre gibt es hier nicht. So ist es uns gelungen, vollständigere und umfangreichere Spektren zu erhalten.
Aus ihnen ersahen wir etwas, was uns auf der Erde entgangen war. Wir haben Neues in Erfahrung gebracht, und das gestattet uns einige Schlußfolgerungen.“
„Welche?“ fragte ich.
„In der Frage, die Sie interessiert“, antwortete Belopolski, „das heißt in der Frage der Venus, hat Arsen Georgijewitsch eine außerordentlich wichtige Tatsache festgestellt, und zwar die, daß in ihrer Atmosphäre Sauerstoff nicht nur vorhanden ist, sondern sogar in ziemlich großer Menge vorkommt. Diese Tatsache läßt den Schluß zu, daß es auf der Venusoberfläche eine Pflanzendecke gibt, denn das Vorhandensein freien Sauerstoffs ließe sich kaum anders erklären. Damit haben wir wiederum den Beweis dafür, daß dort Leben existiert.“
„Pflanzliches“, bemerkte Kamow.
„Wollen Sie damit sagen, kein tierisches?“ fragte ich.
„Ich wollte nur betonen, daß Konstantin Jewgenjewitschs Ausführungen über das Vorhandensein von Leben auf der Venus nicht so aufzufassen sind, als existiere auf ihr das gleiche Leben wie auf der Erde“, entgegnete Kamow.
„Aber könnte es dort, zum Beispiel in den Meeren, nicht die allerprimitivsten Lebewesen geben?“
„Das ist möglich, muß aber nicht unbedingt so sein.
Wenn irgendwo Bedingungen vorhanden sind, die die Entstehung von Leben begünstigen, dann wird dort auf diese oder jene Weise auch Leben entstehen. Auf der Venus sind solche Bedingungen vorhanden, sie haben, wie man nunmehr mit Bestimmtheit behaupten darf, bereits zur Entstehung von Leben in pflanzlicher Form geführt; aber ob dieses Leben noch andere uns bekannte Formen angenommen hat, kann man natürlich nicht sagen.“
„Werden wir diese Formen, wenn es sie wirklich gibt, auch entdecken können?“
„Das hängt von Sergej Alexandrowitsch und von Ihnen ab“, erwiderte Paitschadse. „Je näher das Schiff an die Oberfläche des Planeten herankommt, und je besser Sie alles Sichtbare mit der Kamera festhalten, desto leichter wird diese Frage zu beantworten sein.“
Ich erkundigte mich, wie lange wir uns in der Atmosphäre der Venus aufhalten würden.
„Nicht länger als zehn, zwölf Stunden“, antwortete Kamow und wandte sich an Belopolski. „Ich beabsichtige, das Schiff so zu lenken, daß wir auf der Linie des Terminators in die Atmosphäre hineinstoßen und die ganze Tageshälfte des Planeten überfliegen. Wenn die Venus sich tatsächlich so langsam dreht, wie man vermutet, werden wir etwa zehn Stunden brauchen. Sollten die Wolken bis zur Oberfläche des Planeten hinunterreichen, so müßten wir in dichtem Nebel fliegen. In diesem Fall würden wir uns in der Atmosphäre der Venus gerade so lange aufhalten, wie Boris Nikolajewitsch zu seinen Aufnahmen braucht. Sie müssen auf einen solchen Stand der Dinge vorbereitet sein“, sagte Kamow, an mich gewandt. „Die Aufnahmen müssen dann mit infraroten Strahlen gemacht werden; ich meinerseits werde mir Mühe geben, so weit hinunterzugehen, daß die Nebelschicht, die uns von der Oberfläche trennt, möglichst dünn ist.“
„Im Nebel könnten wir leicht gegen Berge fliegen.“
„Ich hoffe doch, daß der Funkscheinwerfer uns rechtzeitig warnt.“
Der Weltraumkapitän
Ralph Bason, Mitarbeiter der Zeitung „New York Times“, stürzte keuchend vor Erregung in Charles Hapgoods Arbeitszimmer und ließ sich in den Sessel fallen, der vor dem Schreibtisch stand. Schwer atmend, stieß er nichts weiter hervor als: „Sie sind fort!“
Hapgood legte den Füllhalter aus der Hand, runzelte die Brauen und sah Bason durchdringend an.
„Wie sagten Sie?“ fragte er langsam.
„Sie sind fortgeflogen. Ich habe es eben im Rundfunk gehört. Heute um zehn Uhr Moskauer Zeit ist Kamows Raumschiff gestartet!“
Hapgood zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. „Wohin?“ fragte er ein wenig heiser.
„Zum Mars. Sie sind uns zuvorgekommen.“
„Zum Mars?“ Hapgood sah Bason eine Zeitlang nachdenklich an. „Sonderbar, Ralph!“ sagte er dann: „Das Kamow auf den Mars wollte, wußte ich; der Planet steht aber augenblicklich nicht gerade so, daß es günstig wäre, mit der Geschwindigkeit, die Kamows Raumschiff meines Erachtens haben müßte, einen Flug dahin zu unternehmen.
Da stimmt etwas nicht! Wurde nicht gesagt, wann sie zurückkehren sollen?“
„Anfang Februar nächsten Jahres oder, ganz genau, am elften Februar. Außerdem wurde bekanntgegeben, daß Kamow unterwegs die Venus besichtigen will.“
Hapgood zog die Brauen hoch. „Sieh mal einer an! Sogar die Venus? Wollen mal sehen!“ Er nahm einen Bogen Papier, breitete ihn auf dem Schreibtisch aus und zeichnete mit Hilfe eines Zirkels und eines Rechenschiebers ein Schema des Sonnensystems. Bason, der sich von seinem Sessel erhoben hatte, sah ihm aufmerksam zu.
„Hier stehen Erde, Mars und Venus am heutigen Tag“, erklärte ihm Hapgood. „Und hier, Ralph, schauen Sie her, wird die Erde an dem Tag stehen, an dem sie zurückkommen, das heißt am elften Februar. Sehen wir zunächst von der Geschwindigkeit ihres Schiffes ab, so wäre wohl diese Flugbahn hier am vorteilhaftesten.“ Hapgood zog auf dem Blatt eine gestrichelte Linie. „Demnach …“
Hapgood hielt mitten im Satz inne und vertiefte sich in Berechnungen. Bason wartete geduldig auf das Ergebnis.
Um Hapgood nicht zu stören, setzte er sich wieder in den Sessel.
So vergingen anderthalb Stunden. „Demnach“, fuhr Hapgood schließlich in seinem Satz fort, als hätte er ihn gar nicht unterbrochen, „muß ihre Geschwindigkeit mindestens achtundzwanzig Kilometer in der Sekunde betragen, vorausgesetzt, daß sie weder auf der Venus noch auf dem Mars landen, sonst wäre ihre Flugroute nicht durchführbar. Eine andere aber kann ich mir nicht vorstellen. Ich hätte nicht gedacht, daß sie eine solche Geschwindigkeit erzielen können.“
„Sie haben vieles nicht gedacht, Charles!“ Bason machte kein Hehl aus seinem Ärger. „Kamow hat Ihnen nicht zum ersten Male eins ausgewischt.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Ralph! Noch ist nicht alles verloren! Wir geben den Kampf nicht auf. Noch ist Hoffnung!“
„Was für eine? Ich sehe keine. Unser Raumschiff, dessen Geschwindigkeit geringer ist …“
„Vierundzwanzig Kilometer.“
„… kann Kamow nicht einholen“, schloß Bason.
„Einholen nicht“, entgegnete Hapgood ruhig, „aber überholen kann es ihn, denke ich.“
Bason sah ihn verwundert an.
„Ich verstehe Sie nicht“, meinte er.
„Dabei ist das ganz einfach“, erwiderte Hapgood.