»Auf die, dass ich dich mit der Vermutung, dass du mehrere verschiedene Techniken benutzt hättest, überschätzt habe und dir in Wirklichkeit nur die eine Methode zur Verfügung steht, da die Unterscheidungen zwischen diesen Techniken keine sind.«
»Haha«, sagte Swan sarkastisch.
Wahram konnte sich gerade noch das Lachen verkneifen.
Der Qube fuhr fort: »Man könnte außerdem behaupten, dass das klassische System der Rhetorik eine falsche Taxonomie darstellt, eine Art Fetischismus …«
»Es reicht!«
Eine gedehnte Stille folgte.
»Ich gehe in der Küche helfen«, sagte Wahram und stand auf.
Nach einer Weile kam sie ihm hinterher, räumte die Geschirrspülmaschinen neben dem Fenster aus und schaute in den Nebel hinaus. Dann goss sie sich ein Glas aus einer herumstehenden Flasche Wein ein. Das nasse Geklapper der Küchenarbeit war ihm seit jeher wie eine Art von Musik vorgekommen.
»Sag etwas!«, befahl sie schließlich.
»Ich denke gerade an diese Geparden«, sagte er aufgeschreckt. Er hoffte, dass sie ihn gemeint hatte, obwohl sich sonst niemand im Raum befand. »Hast du viel von ihnen mitbekommen?«
Keine Antwort. Sie gingen raus und wischten die Tische ab, was ein Weilchen dauerte. Swan brummte vor sich hin; es klang, als stritte sie sich erneut mit ihrem Qube. Einmal stieß sie mit Wahram zusammen und sagte: »Jetzt mach schon hin! Warum bist du so langsam?«
»Warum bist du so schnell?«
Natürlich handelte es sich bei dieser nervösen Hektik um eine berüchtigte Charaktereigenschaft der meisten Qube-Köpfe; aber das durfte man nicht laut sagen, und außerdem schien es bei ihr schlimmer zu sein als üblich. Vielleicht machte ihr ihr Kummer immer noch zu schaffen und sie brauchte eine Auszeit. Jedenfalls antwortete sie ihm nicht, sondern schmiss einfach ihre Schürze beiseite und ging in den Nebel hinaus. Er trat an die Tür und schaute ihr nach. Mit einem Mal bog sie in Richtung eines Feuers auf dem Marktplatz ab, um das Menschen herumtanzten. Als sie nur noch ein Schattenriss vor den Flammen war, konnte er beobachten, wie sie sich in den Tanz einreihte.
Gewohnheiten bilden sich schon ab der ersten Wiederholung. Mit ihr entsteht fast zwangsläufig ein Hang zur weiteren Wiederholung, weil es sich bei den Mustern, um die es geht, um Verteidigungsmechanismen handelt, Bollwerke gegen Zeit und Verzweiflung.
Wahram war sich dessen nur zu bewusst und hatte diesen Vorgang schon oft durchlebt; deshalb achtete er darauf, wie er sich auf Reisen verhielt, und suchte dabei nach jenen ersten Wiederholungen, die das Muster eines ganz bestimmten Lebensabschnitts hervorbringen würden. Allzu oft war das erste Mal, dass man etwas tat, von äußeren Umständen bestimmt, ein Versehen, das nicht unbedingt eine gute Grundlage für zukünftige Gewohnheiten darstellte. Man musste also die Augen offen halten und verschiedene Möglichkeiten antesten. Genau genommen handelte es sich um ein Interregnum, in dem man das Blätterkleid alter Gewohnheiten abwarf und nackt dastand, die Zeit, in der man ziellos umherstreifte und nach dem Zufallsprinzip handelte. Die Zeit ohne Haut, der Rohdaten, des In-der-Welt-Seins.
Für seinen Geschmack kamen diese Momente etwas zu oft. Die meisten Terrarien, die Passagierflüge durchs Sonnensystem anboten, waren extrem schnell, aber trotzdem dauerte eine Reise oft Wochen. Das war einfach eine zu lange Zeit, um sich bloß ziellos treiben zu lassen; wenn man das tat, konnte man leicht völlig teilnahmslos werden oder in eine andere Art von geistigem Winterschlaf verfallen. In den Siedlungen um den Saturn entwickelten die Leute aus so etwas sogar ganze Wissenschafts- und Kunstformen. Doch für Wahram war jede derartige hebephrene Schizophrenie gefährlich, wie er vor langer Zeit schmerzlich hatte erfahren müssen. Zu oft schon hatte bei ihm die Sinnlosigkeit an seiner Existenz genagt. Er brauchte Ordnung und ein Projekt; er brauchte Gewohnheiten. In der Nacktheit der abgeschüttelten Muster schwang in der Intensität des Erlebens auch ein leichtes Grauen mit – die Furcht, dass kein neuer Sinn anstelle des alten, nun verlorenen erblühen würde.
Natürlich wiederholte sich eigentlich nichts wirklich; das war schon seit den Vorsokratikern klar, seit Heraklit und seinem Fluss, in den man nicht zweimal steigen kann und so weiter. Gewohnheiten waren also nicht iterativ, sondern bloß pseudoiterativ. Mit anderen Worten, die Tagesabläufe mochten einander gleichen, aber die Einzelereignisse, die das Muster ausfüllten, waren jedes Mal ein wenig anders. Deshalb gab es sowohl Regelmäßigkeit als auch Überraschendes, und genauso wünschte Wahram es sich: Er wollte ein pseudoiteratives Leben. Aber es sollte auch ein gutes pseudoiteratives Leben sein, ein interessantes, und das Muster, nach dem es verlief, sollte wie ein kleines Kunstwerk sein. Ganz egal, wie kurz ein Ausflug und wie langweilig das Terrarium und seine Bewohner waren, kam es ihm darauf an, ein Muster und ein Projekt zu entwickeln und dieses mit all seiner Willens- und Vorstellungskraft zu verfolgen. Letztlich lief es darauf hinaus, dass alles Leben an Bord von Raumschiffen Stillstand war. Man musste jeden einzelnen Tag beim Schopf ergreifen.
Am nächsten Morgen verließ er nach dem Frühstück also das Saturn-Haus und ging erneut zum Park. Bei dem Häuschen schloss er sich einer Gruppe an, die einer kleinen Elefantenherde folgen würde. Nach einer Weile gesellte sich auch Swan zu ihnen. Sie war offenbar schon vorher weiter in den Park vorgedrungen und kehrte jetzt ein wenig erhitzt, als wäre sie gerannt, zu ihnen zurück. Die Gruppe hatte ein Gerät dabei, mit dem man die unterhalb der Hörschwelle liegenden Laute, die die Elefanten von sich gaben, in den für Menschen hörbaren Bereich verschieben konnte. Während Swan den Gesprächen oder Gesängen der Tiere lauschte, runzelte sie die Stirn, als würde sie ihre Sprache verstehen. Als die Elefanten schließlich verstummten, bat sie den Zoologen, der die Gruppe anführte, um eine Erklärung dafür, dass sich die Dämmerung am Abend zuvor so lange hingezogen hatte. Wahram begriff schnell, dass ein äquatoriales Biom wie dieses eigentlich eine sehr kurze Dämmerung hätte haben sollen, da die Sonne in den vergleichbaren Regionen der Erde unabhängig von der Jahreszeit beinahe lotrecht hinter dem Horizont versank. Überrascht, dass Swan das aufgefallen war, meinte der Zoologe offenbar, sich rechtfertigen zu müssen. Er erklärte, dass es sich um ein Experiment handelte – dass man das entsprechend dem 23. irdischen Breitengrad eingestellt hätte, da auf der nördlichen Erdhalbkugel große Bereiche um diesen Breitengrad mittlerweile so heiß waren wie die Äquatorzone vor der globalen Erwärmung. Wälder verwandelten sich in Grasland und weite Bereiche versteppten, weshalb die Bewegung für Migrationshilfe die Möglichkeit untersuchte, Populationen aus semiariden tropischen Regionen wie dieser auf solche Breitengrade zu verpflanzen. In der Hoffnung, der Bewegung erstes Datenmaterial verschaffen zu können, hatte man die Einstellung des Sonnenstreifens in Wegener entsprechend angepasst.
Swan schien nicht besonders zufrieden mit dieser Erklärung, und kurz darauf zog sie wieder alleine los, ohne die enttäuschte Miene des Zoologen und die Missbilligung einiger der anderen Besucher zu beachten. Später am selben Abend sah Wahram sie in seinem Restaurant; da auch sie viel reiste, praktizierte sie wahrscheinlich auch eine Form des Pseudoiterativs; das war ein ganz natürlicher menschlicher Drang. Wahram aß am Nachbartisch und ging anschließend Geschirrspülen, doch obwohl er ihr höflich zunickte, sprach sie kein Wort. Als er in der Küche fertig war und wieder rausging, um noch etwas zu trinken, war sie fort. Am anderen Ende der Straße brannte wieder das Freudenfeuer, und die Tänzer tanzten.
Der zweite Tag beinhaltete also einige Elemente neuer Gewohnheiten; doch am Tag darauf flog Wegener dicht an der Venus vorbei und benutzte sie als Gravitationsanker, um sich schneller in Richtung Jupiter zu katapultieren. Wahram fuhr mit der Tram Richtung Bug und zog sich an Handsprossen durch einen Gang, in dem praktisch Schwerelosigkeit herrschte, in den Aussichtsraum, der wie eine Blase am vorderen Ende des Asteroiden hing. In diesem Raum konnte man jederzeit das halbkugelförmige Sternenpanorama betrachten, das sich über einem erstreckte – und dort, sichtlich größer werdend, hing die Venus vor ihnen. Wahram, der zu Hause eine Menge Zeit in Mikrogravitationen wie dieser verbrachte, hielt sich ohne Schwierigkeiten mit nur einer Hand in einer Halteschlaufe im Gleichgewicht. Er konnte es kaum erwarten zuzusehen, wie der zweite Planet unter ihnen vorbeiziehen würde. Kurz vor dem letzten Stück ihrer Annäherung kam Swan herein, wie immer spät und in Eile.