Die Atmosphäre der Venus war im Vergleich zum ursprünglichen Zustand so ausgedünnt, dass sie nun durchsichtig war, und obwohl der gesamte Planet im Schatten eines Sonnenschilds lag, weshalb auf ihm permanent Nacht herrschte, konnte man die blassweißen Trockeneismeere und den schwarzen Fels der beiden Kontinente sehen, die mit Maschinen und Gebläsen teilweise freigelegt worden waren. Wolkenmuster, wie man sie von der Erde oder vom Mars kannte, wirbelten über verschneiten Ebenen und den Trockeneisozeanen und erzeugten so eine Art Graumelierung, deren Anblick der Verstand nicht so recht verarbeiten konnte, sosehr man sich auch anstrengte. Der Aussichtsraum hallte von erstaunt und verwirrt klingenden Ausrufen wider. Das menschliche Auge kam einfach nicht besonders gut damit zurecht, wenn die hoch gelegenen Regionen schwarz und die tiefer liegenden weiß waren, und außerdem war die ganze Sache ohnehin noch komplizierter. Selbst aus unmittelbarer Nähe handelte es sich bei der Venus nach wie vor um ein einziges Wirrwarr aus Sprenkeln. Sie näherten sich in schrägem Winkel der Planetenoberfläche, und dann sauste Wegener direkt oberhalb der Atmosphäre an ihm vorbei, um den Schleudereffekt voll auszunutzen. Unter ihnen zog eine Ansammlung von Lichtern vorbei, von denen einige behaupteten, dass es sich um Port Elizabeth handelte. Ganz in der Nähe befand sich eine Stadt namens Billie Holliday, wo Wahram einmal in einem riesigen Waldo gearbeitet und das Trockeneis in den Tälern mit Steinschaum bedeckt hatte. Ähnliches wurde derzeit auf dem Titan gemacht. Venus und Titan waren die beiden besten verbleibenden Kandidaten, um sie dem Mars als vollständig terraformte Welten beizustellen – manche bezeichneten sie als Hemdsärmel-Welten, mit für Menschen atembaren Atmosphären an der Oberfläche. Am Beispiel Mars sah man, wohin das führen konnte: zu einer unabhängigen neuen Welt, frei von all den Sorgen der alten.
Swan tanzte für sich allein. »Ich will zurück«, sang sie niemandem im Besonderen, oder vielleicht ihrem Qube, zu. »Ich will den giftigen Wind spüren, der über die giftige See peitscht.«
Die Venusianer waren vor dem Schleudermanöver von Bord gegangen, weshalb es in Wegener nun nicht mehr so interessant war, was die Menschen anging. Keine Freudenfeuer mehr, keine durchtanzten Nächte. Wahram verbrachte die meisten Tage im Naturpark; das wurde zum Herzstück dieses Pseudoiterativs. Sie versuchten, die Vögel und Säugetiere zu zählen. Oft sahen sie dort draußen Swan, die für sich allein umherlief. Offenbar schlief sie auch dort, und eines Abends in der Küche erklärte sie, dass sie, wenn es sich vermeiden ließ, niemals drinnen schlief, obwohl in gewisser Weise natürlich das ganze Terrarium ein Innenraum war. Draußen im Park entdeckte er auch Hinweise darauf, dass sie versuchte, sich einen Teil ihres Essens selbst zu fangen. Einmal stießen sie auf ein Kaninchen, das in einer kleinen Schlinge am Ufer des Bachs gefangen war, der sich spiralförmig durch den Park schlängelte. So etwas war illegal, und wichtiger noch, es gehörte sich nicht. Ein paarmal sahen sie auch Asche von Feuerstellen, in denen kleine, nicht vollständig verbrannte Knochen lagen. Kaninchen oder Rehe über dem Feuer braten … dabei musste man sich vor Hyänen in Acht nehmen. Das hervorragende südindische Essen in seinem Restaurant war da mit Sicherheit vorzuziehen.
Dann trafen sie eines Morgens auf Swan, als sie noch an ihrem kleinen Feuer hockte. Ihr Gesicht war noch immer fett- und ihre Hände blutverschmiert, und zwischen ihren Füßen lag ein kleines Fellknäuel. Mit einem Raubtierblick, der sehr dem ähnelte, den man von einer Hyäne geerntet hätte, hätte man sie in einem vergleichbaren Moment ertappt, schaute sie zu ihnen auf. Eine ganze Weile lang wusste niemand etwas zu sagen. Wilderei war bei den Behörden kein bisschen beliebter geworden als früher, das erkannte Wahram mit einem schnellen Blick auf den Zoologen sofort, auch wenn man Swan sicher nicht gleich hängen würde. Tatsächlich scharrten die anwesenden Einheimischen, die allesamt höchstens halb so alt waren wie Swan, angesichts ihres Gründerstatus mit den Füßen und suchten anscheinend einen Weg aus der verzwickten Lage.
»Ich schätze, das nennt man auf frischer Tat ertappt«, sagte Wahram so jovial wie möglich. »Aber bitte, ich möchte die Gelegenheit, die Elefanten zu sehen, nicht verpassen, und sie entfernen sich schnell von uns. Ich bin mir sicher, dass die Lage hier sich bald wieder normalisieren wird.« Damit ging er auf eine Art und Weise fort, die seine Führer mit ihm zog.
Besser, er setzte die Erforschung des Parks in einer anderen Richtung fort. Vielleicht konnte er sich auch auf die Suche nach der kleinen Gepardenfamilie machen. Einmal beobachtete er Swan eben dabei, doch er näherte sich ihr nicht. Inzwischen war deutlich geworden, dass ihr nach Einsamkeit zumute war. Wenn sie in der Stadt in sein Restaurant kam, aß sie allein. Das enttäuschte Wahram ein wenig.
Im Pseudoiterativ achtet man während des rituellen Tagesablaufs sowohl auf die Freuden des Vertrauten als auch auf den Schauer des Zufälligen. Es war wichtig, im Morgengrauen draußen zu sein. Der helle Bereich des Sonnenstreifens warf Schatten durch den Zylinder, und über seinem Kopf flogen Vogelschwärme von einem See zum nächsten. Die Zugvögel taten so, als zögen sie um die Welt, sagte man ihm; sie flogen im Morgengrauen los und waren den Großteil des Tages unterwegs, ehe sie wieder dort ankamen, wo sie losgeflogen waren. Vielleicht unterschieden sich all seine Bewegungen im Prinzip nicht von ihren.
Er begab sich einmal mehr in die Aussichtsblase, als Wegener den berühmten Asteroiden Programmfehler passierte. Hier hatte eine der Abbaumaschinen einen Befehl missverstanden. Manche vermuteten, die Fehlfunktion der KI sei durch einen unglückseligen Treffer kosmischer Strahlung verursacht worden, sodass die Maschine, nachdem sie den großen Eisen-Nickel-Asteroiden entkernt hatte und seinen Innenraum mit Stahl ausgekleidet hatte, umgekehrt war und den verbliebenen Fels des Asteroiden entlang der Röhre um die erste Höhlung aufzufressen begonnen hatte; jedes Mal, wenn sie die Oberfläche des Asteroiden durchbrochen hatte, war sie erneut umgekehrt und hatte so ein Netzwerk von Tunneln hinterlassen. Nach ein paar Jahren, als der ganze, sehr viel kleiner gewordene Asteroid bereits aussah wie ein geflochtenes und zu einem Knoten gebundenes Stahlseil, war klar geworden, dass sie niemals von alleine damit aufhören würde. Manche waren dafür, die Sache einfach weiterlaufen zu lassen, um zu sehen, was dabei herauskommen würde, aber dagegen hatte wohl irgendjemand Einwände gehabt, denn eine Explosion mit einem starken elektromagnetischen Impuls zerstörte die KI und ließ sie mitten in der Drehung innehalten, sodass ihre Grabschnauze aus der Oberfläche herausragte wie ein Schlangenkopf. Tatsächlich hatte der Asteroid sich inzwischen in eine Art Medusenhaupt verwandelt, eine Brezelskulptur, die manche für wunderschön und andere für grauenvoll hielten, ein Sinnbild der Dummheit von KIs oder der Eitelkeit menschlichen Strebens.
Das Wegener-Terrarium rauschte so schnell an dem Asteroiden vorbei, dass die Menschen in der Aussichtsblase kaum Gelegenheit zum Blinzeln hatten, wenn sie ihn nicht verpassen sollten: In der Zeit, die man brauchte, um einmal Atem zu holen, wuchs er von einem Punkt zu einem Basketball und wurde wieder zu einem Punkt. Die Leute schnappten nach Luft und begannen zu jubeln. Es handelte sich in der Tat um ein sehr gelungenes Zufallskunstwerk, fand Wahram, so voller Windungen, dass es regelrecht zu zappeln schien, als verfolgte der Kopf des Ouroboros einen unwilligen Schwanz – die Formulierung kam ihm in den Sinn, als er, wieder zurück in der Küche, den Anblick beschrieb. Wie ein Gewirr von Klein’schen Flaschen.