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Sie wurde zum Sonnenläufer, im Kopf die auswendig gelernten Karten. Während sie fast blind Richtung Westen stapfte, wusste sie also, dass sie bald über die Anhöhe nördlich von Mahler kommen und einige verlassene und von der Sonne gebrannte Ballard’sche Landebahnen passieren würde. Anschließend würde sie das obere Ende einer Abbruchkante erreichen, einen kleinen, vorstehenden Riss in der Landschaft, sehr alt, von dem aus man zweihundert Meter weit nach unten auf die Ebene schauen konnte. Glücklicherweise gab es in dem Steilhang eine Reihe schräger Simse, die als Treppe fungierten. Sie war nicht zum ersten Mal hier. Dieser Steig wurde oft von Sonnenläufern verwendet, die hier entlangkamen, und war bereits seit Jahren von Staub und Geröll befreit. Es handelte sich um einen rissigen Weg aus sauberen Steinrampen, der sie im Zickzack zu der tiefer liegenden Ebene hinabführte. Sie fand, dass der Horizont sich auf dem Merkur in genau der richtigen Entfernung befand: Man konnte nicht einfach die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren, aber man konnte zu ihm hingehen, um ihn sich näher anzusehen.

Jetzt gerade befand sich dort draußen eine Gruppe Sonnenläufer, die geduldig Richtung Westen stapfte. Kleine silberfarbene Gestalten, die sie an Inspektor Genette erinnerten und die soeben hinter dem Horizont verschwanden. Sie würden ein Weilchen wandern und sich dann in Karren oder auf Bahren legen, um zu schlafen, während die anderen sie weiterzogen. Zusammen wandern, die Schlafenden mitziehen – was für ein schönes Gefühl von Vertrauen und Fürsorge, wenn man sein Leben auf solch spielerische Art in die Hände von Fremden legte. Auch das machte es aus, ein Merkurianer zu sein. Lange Zeit hatte sie sonst keine Gesellschaft gebraucht, mit Ausnahme ihrer Stadt.

Sie erreichte den Fuß des Steilhangs und betrat die flache Geröllebene des Tricrena-Albedo. Hier verlor sich der Pfad, weil alle Wege gleich gut waren. Hier konnte sie in die Nacht hineinlaufen, vor der Dämmerung Boden gewinnen, sich auf den Yes Tor stellen und zusehen, wie die höchsten Punkte der Ebene wie Kerzen aufflackerten und von ihren leuchtenden Spitzen abwärts herunterbrannten. Auf ewig in der Morgendämmerung laufen, wie sehr es einem danach verlangen konnte! Wer mochte schon den Mittag oder die Abenddämmerung? Das Morgengrauen hinter sich lassen, in die Nacht zurückzulaufen. Den Tag aufschieben – wer wusste schon, was er bringen würde? Sie folgte keinem Plan, keiner Idee.

Eine ganze Weile rannte sie und dachte über nicht viel mehr nach als den Stein unter ihren Füßen und die Beschaffenheit des Geländes. Sonst brauchte sie nichts. Sie konnten dem Merkur die Eingeweide herausreißen, jedes wertvolle Mineral aus ihm herausholen, seine Oberfläche würde dadurch kein bisschen anders aussehen. Dieser Planet war bereits ein Backstein. Das schwer mitgenommene Gesicht eines alten Freundes. Überall waren Felsbrocken verteilt, Geröll, Müll, Auswurf. Die Staubdecke. Gold in den Bergen dort. Aber Freunde reden miteinander. Ich will mit jemandem reden können, und zwar so, dass es mir etwas bedeutet. Ich will Dinge hören, die mich interessieren, die mich überraschen, ganz egal, wie unmöglich es ist, mich zu überraschen. Nur dass es in Wahrheit ganz einfach ist, mich zu überraschen. Wie konnte es sein, dass niemand da war, um jemanden zu überraschen, der sich so leicht überraschen ließ?

Eine behäbige Person, eine saturnianische Person. Was, wenn es jemanden gab, auf den man sich verlassen konnte, jemanden, der ordentlich war, zuverlässig, vorhersehbar, bestimmt; entschieden, wenn er etwas hinreichend durchdacht hatte; großmütig; gütig. Jemand, der phlegmatisch war und dennoch zu kleinen Ausbrüchen der Begeisterung neigte, bei denen es meistens um ästhetische Freuden der einen oder anderen Art ging. Glücklich in der Gefahr, ein wenig trunken. Jemand, der eine Landschaft lieben konnte. Jemand, der gerne Tiere beobachtete und ihnen nachjagte, nur um einen Blick zu erhaschen. Jemand, der sie ansah, als wäre es ein interessantes Projekt, sie zu verstehen, und nicht nur ein zu lösendes Problem oder ein Stück Kulisse in einem wichtigeren Stück. Und der jeden, den er traf, mit derselben Aufmerksamkeit betrachtete. Oft mit einem kleinen Lächeln, das anscheinend Vergnügen an der Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Zurückhaltend, aber freundlich. Wenn all unsere Bekanntschaften sich nur in Form von Sprache charakterisieren ließen, würden wir wie Geschöpfe erscheinen, die Widersprüche sammeln, Paradoxien, Oxymorons. Für jede Sache der einen Art gab es etwas Andersartiges, das sie aufwog. Menschen gab es in beide Richtungen. Bei jemandem wie ihm klang ein kleines, fröhliches Lachen geradezu ausgelassen.

Sie erreichte einen ihrer Lieblings-Goldsworthys, aus einer Zeit, als sie damit experimentiert hatte, Kugeln aus Blei und anderen Metallen, die in der Tageshitze schmelzen würden, auf Abhängen zu platzieren, in die sie Rinnen gekratzt hatte, sodass die Kugeln aus Blei, Kupfer oder Zinn, während der Tag über sie hinwegzog, in die Rinnen flossen und dabei Bilder oder Schriftzeichen bildeten, immer gestreckt, sodass sie von einem Aussichtspunkt auf einem nahe gelegenen Steilhang aus aufrecht zu stehen schienen. Bei dieser Skulptur, die sich nördlich von Mahler befand, hatte sie zwei Buchstabengruppen sorgfältig so angeordnet, dass sie einander überlappten und ihre Linien sich kreuzten, wobei die Passage zu dem einen oder dem anderen Wort gleich durchlässig waren. Wenn die Metallklümpchen in der Sonne schmolzen, staute das flüssige Metall sich an den Gabelungen, bis das eine oder das andere Gatter nachgab und das Reservoir sich leerte. Je nachdem, was an den Passagen passierte, konnten die Buchstaben der Installation also entweder das Wort »LEBEN« oder »STERBEN« bilden. Es handelte sich um die letzte einer Reihe von Antinomien, die sie in jenen Jahren der Landschaft und der Sonne ausgesetzt hatte, einschließlich aller sieben einander überlappenden Kardinaltugenden und Todsünden, die miteinander rangen wie Jakob mit Gott. Bislang stand das endgültige Urteil noch aus: Der Vorgang schien zufallsbestimmt zu sein. Aber in diesem speziellen Fall waren beide Passagen gleichzeitig durchbrochen worden, und der Metallstrom hatte nicht genügt, um alle Rinnen zu füllen. Manche waren zuerst vollgelaufen, und das Ergebnis, ein hell glitzerndes Silber- und Kupfergemisch, bildete das Wort »BETEN«.

Jetzt stand sie da und schaute von der Aussichtsplattform darauf hinab. Selbst damals war ihr dieses Ergebnis schon passend vorgekommen; und jetzt erschien es ihr geradezu zwingend. Man konnte nach wie vor die leeren Rinnen der einander überlappenden Worte sehen, das Leere L und R. Aber das Wort »BETEN«, das metallisch vor der dunklen Landschaft leuchtete, stach heraus. Wirklich sehr passend. Die Leute behaupteten, dass sie es mit Absicht so eingerichtet hatte, aber dem war nicht so: Die Dämme waren gleich stark gewesen und von alleine zur gleichen Zeit gebrochen, und gewisse Buchstaben waren zuerst vollgelaufen – ein Clinamen. Aber in gewisser Weise sagte es die Wahrheit aus. Weder lebten sie noch starben sie – sie taten beides zugleich –, und so beteten sie, um den Widerspruch zu versöhnen. Gleichzeitig blieb es eine Lüge. Und so logen sie und logen erneut. Man konnte also ebenso gut weitermachen.

Nach einer Weile wandte sie sich nach Süden, um zur nächsten Plattform zu gelangen, bevor die Stadt sich über den Horizont schob. Sobald sie über den niedrigen Rand des uralten Kraters Kenkˉo stieg, würde sie die Schienen Terminators sehen können, schwach schimmernd, im Tal zu ihren Füßen.

Vom Kraterrand des Kenkˉo aus stieg sie zur Südseite herab. Sie sah die Schienen, und eine einsame Gestalt, die sich ihr entgegen den Hang empormühte. Rund, groß: Und sie erkannte seine Art zu gehen im ersten Moment, o ja, sie kannte diese Art zu gehen!

Swan schaltete auf den offenen Kanaclass="underline" »Wahram?«

»Ich bin’s, ich bin auf der Jagd nach dir.«

»Du hast mich gefunden.«

»Ja. Wolltest du bald in die Stadt zurückkommen? Ich habe nämlich nichts zu essen dabei.«