Am nächsten Tag sausten sie an einer weiteren berühmten Fehlleistung vorbei, und dieses Mal fanden sich mehr Zuschauer ein als bei Programmfehler, was Wahram deprimierend fand. Dieses Terrarium, Yggdrasil, hatte einen katastrophalen Hüllenbruch erlitten; ein unbemerkt gebliebener, eisgefüllter Spalt war aufgeplatzt. Das Resultat war weniger ein Leck, sondern eher eine Explosion gewesen. Nur einige wenige Bewohner hatten überlebt, etwa fünfzig von dreitausend. Das konnte jedem passieren, der nicht auf der Erde oder dem Mars lebte. Wahram wollte es sich nicht ansehen.
Listen (2)
Nackt unter einer Hitzelampe auf einem Eisblock liegen
Fünf Stunden in einem Raumanzug mit Sauerstoff für nur vier Stunden verbringen
Entlang des Äquators um den Merkur herum laufen
Sich mit einem Lasermesser ein Diagramm des Sonnensystems in die Brust schneiden
Langsam (den ganzen Tag lang) die Große Treppe herabstürzen, nackt, wie bei Duchamp
In einem Patronenschiff vom Terminator aus in eine Sonneneruption hineinfliegen, sich aus der Kapsel katapultieren und nur mit den Düsen des Raumanzugs eine Bruchlandung hinlegen
Auf einem Stuhl sitzen und jemanden in die Augen schauen, der ihr gegenübersitzt, ein Jahr lang
In einem feuerfesten durchsichtigen Ganzkörperanzug durch die Flammen tanzen
Bowlingkugeln über die Große Treppe von der Dämmerungsmauer herabrollen lassen, einen ganzen Tag lang (am Paschinko-Tag)
Eine Woche in einer Wurmkiste verbringen
In Kreuzigungsposition, mit dem Kopf nach unten, im Licht der Sonne hängen, wenn die Tore der Dämmerungsmauer geöffnet werden
Eine Woche lang in einem Haufen Zwiebeln sitzen und eine nach der anderen schälen
Den Schutzraum in einem Raumanzug mit Luftvorrat, aber ohne Heizung verlassen, um zu sehen, wie lange sie es draußen aushält (14 Minuten)
Den Schutzraum in einem Raumanzug mit Luftvorrat, aber ohne Heizung verlassen, um zu sehen, wie lange sie es draußen aushält, während sie im indirekten Sonnenlicht und dessen Strahlungswärme unterwegs ist (61 Minuten)
Den Schutzraum in einem Raumanzug mit Heizung, aber mit nur einem Helm voll Luft verlassen, um zu sehen, wie lange sie es draußen aushält (8 Minuten)
Swan und eine Raubkatze
Swan verließ Wegener, peinlich berührt von den grauenhaften Ideen ihrer Jugend, in diesem Fall für die Savannen-Pampa Ascension – ganz zu schweigen davon, dass sie eben dort auf frischer Tat beim Wildern ertappt worden war. Dieser Klugscheißer. Es war deprimierend. Aber es wurde sogar noch schlimmer, als ihre Fähre sie auf einem Terrarium ablud, das Richtung Jupiter unterwegs war und das sich als das Pleistozän erwies. Es handelte sich um eine weitere ihrer Jugendsünden, eine eiszeitliche Nordwelt voller arthritischer, gigantischer Kreaturen, die man wieder zum Leben erweckt hatte und die nun als jämmerliche Mutantenversionen ihrer selbst durch die Gegend stapften. Riesige Kurznasenbären, die sich mit verwirrt offen stehenden Mündern umblickten – dazu schrecklich anzuschauende Exemplare von Canis dirus, Säbelzahntiger, amerikanische Geparden, Mastodonten und Wollhaarmammuts. Die meisten dieser Tiere waren nicht ganz authentische Wiederherstellungen aus altem DNA-Material, eigentlich Kunstprodukte, die von Elefanten oder Kodiakbären zur Welt gebracht worden waren, und daher gänzlich unerfahren in der Lebensweise ihrer Art. Es war ein trauriger Anblick. Swan verfluchte sich selbst. Um die verbleibenden Wochen ihrer Reise zum Jupiter zu überstehen, lebte sie ausschließlich in der Wildnis und bezahlte fast mit dem Leben dafür; zum einen war es schrecklich kalt, und dann wachte sie auch noch eines Morgens in einer unsinnig unbequemen Haltung in einer Astgabel auf und stellte fest, dass der Baum vom Gewicht einer an ihm emporkletternden Raubkatze bebte, einer großen Katze von wer weiß welcher Art – wahrscheinlich handelte es sich schlicht und einfach um einen Berglöwen, vielleicht auch um einen Schneeleoparden, das Fell des Tiers war lang genug dafür. Jedenfalls hatte die Raubkatze es auf sie abgesehen, und da sie auch nicht schwerer war als Swan, konnte sie den Baum wahrscheinlich weit genug emporklettern, um sich ihren Wunsch zu erfüllen. Es waren etwa zwölf Meter bis zum Boden, und das Terrarium erzeugte durch seine Drehung etwa 1 g – einen kurzen Moment lang fluchte sie innerlich darüber, dass man die marsianische Gravitation, die früher in Terrarien die Norm gewesen war, schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, doch dann vertrieb die Angst jeden Gedanken aus ihrem Kopf. Sie musste raus aus ihrem Nest. Sie musste höher gelangen, als eine Katze es konnte, die genauso schwer war wie sie selbst. Das war offenkundig ein Problem. Sie zog sich auf den nächsthöheren Ast, der sehr viel steiler emporragte als der, auf dem sie geschlafen hatte. Die Katze beäugte sie ruhig. Bislang rührte sie sich nicht vom Fleck. Topasaugen in scheckigem weißem Fell; die weißen, hungrigen Zähne gebleckt. Keine Spur von Bosheit. Den steil nach oben zeigenden Ast empor, die Füße in die Gabeln gestemmt, schmerzhaftes Herauswinden, höher und höher. Im schwankenden Wipfel, all die Äste um sie gleichermaßen dünn und biegsam. Irgendeine Art von Eiche. Wenn sie dem Tier auf die Schnauze trat, sobald es sie ansprang, würde es sie vielleicht verfehlen und fallen. Vordertatzen würden sich an ihr festkrallen, sie würde sich mit ihrem Tritt wegdrehen müssen – vielleicht noch höher. Sie versuchte, weiter emporzuklettern, doch es ging nicht.
Sie war auf dem Pleistozän. Sie hatte eine Betäubungspistole dabei.
Aber sie hatte sie in ihrem Schlafnest gelassen. »Scheiße.«
Die Katze stieg nun auf Swans Ast. Ein ganz schönes Gewicht, so wie der Ast schwankte.
»Pauline, irgendwelche Vorschläge?«
»Mach ihr Angst«, sagte Pauline. »Schalt voll auf Adrenalin, und tu etwas Absurdes.«
Swan drehte sich herum, ließ los und fiel der Katze mitten ins Gesicht, wobei sie so laut wie möglich kreischte. Als ihre Füße irgendwo anstießen, umklammerte sie die Äste um sie herum und spürte, wie ihr etwas gegen die Rippen knallte. Alle Luft zum Schreien wurde ihr aus den Lungen gepresst. Hektisch suchte sie mit den Füßen Halt, fand keinen, blickte nach unten. Die Katze war am Boden und schaute zu ihr empor. Swan schrie erneut und verspürte einen Stich von einer gebrochenen Rippe. Sie verfiel in Wutgebrüll und stieß wüste Flüche gegen die Katze aus. Das Tier mit den Waffen des Archilochos töten. Ihre Stimme ein raues, schmerzhaftes Knurren, ein bitteres Kreischen, das ihr in der Kehle wehtat und dessen Klang sie selbst kaum ertrug. Das Geräusch machte ihr bewusst, dass sie endgültig durchgedreht war. Die Katze seufzte schwer und tappte davon.
Swan kletterte in ihr Nest zurück und holte die Betäubungspistole. Das Herabsteigen aus dem Baum gestaltete sich höllisch schmerzhaft.
Nach diesem Vorfall ging sie Wahram aus dem Weg, und als man sie auf Kallisto absetzte, hatte sie das Stechen in ihrer Seite ein wenig liebgewonnen. Tatsächlich fühlte sie sich besser damit; es war Ausdruck ihres Kummers und ihres Zorns. Den Moment des Schreckens, von dem es herrührte, hatte sie nicht vergessen, aber sie hatte ihn zu etwas anderem verarbeitet, zu einer Art Triumph. Beinahe wäre sie zu einer Frühstücksmahlzeit geworden! Sie hatte sich dumm verhalten und trotzdem einmal mehr überlebt – wie oft das schon vorgekommen war. Das war sicher Schicksal. Sicher würde es so weitergehen.