»Das ist der grundlegendste aller falschen Syllogismen«, versicherte Pauline ihr, als sie den Gedanken laut aussprach.
Die Jupitermonde waren riesig, und Jupiter selbst war ein gigantisches, genial überladenes Ölgemälde aus zähen Blasen, die von einem atemberaubenden Paisleymuster-Garten zum nächsten wirbelten – die Grenzstreifen zwischen diesen Bändern boten ein unvergleichliches Farbenspiel. Swan liebte den Anblick, und die Stadt, aus der sie ihn genoss, war auch nicht übeclass="underline" Sie hieß Vierter Ring Walhallas und war auf dem namensgebenden Rand des großen Mehrfachkraters errichtet. Walhalla hatte sechs Ringe, die aus dem Mond Kallisto hochgeschlagen waren wie konzentrische Wellen auf einem Teich, in den man einen Stein geworfen hat. Die Stadt war auf dem Kamm des vierten Rings errichtet und lief einmal um ihn herum. Inzwischen waren auch auf dem dritten und dem fünften Ring Städte im Entstehen begriffen. Es hieß, dass man früher oder später ganz Walhalla überdachen würde und danach vielleicht den Rest von Kallisto; und es war eine große Welt. Manche behaupteten, dass man sie vernünftig terraformen konnte, obwohl keine Ausgangsatmosphäre vorhanden war.
Genau genommen handelte es sich um eine von vier großen Welten, denn alle Galilei’schen Monde waren gigantisch. Aber gleichzeitig hatte Swan den Eindruck, als lastete eine Art Fluch auf ihnen: Einer war praktisch nutzlos, ein weiterer umkämpft. Ios Umlaufbahn verlief so tief innerhalb von Jupiters tosenden Strahlungsgürteln, dass niemand jemals auf ihm wohnen würde, mit Ausnahme einiger Wissenschaftler in Schutzbunkern. Europa, ein großer, wunderschöner Eismond, besaß einen dicken Eispanzer, der einen gewissen Schutz vor der auch hier noch starken Jupiterstrahlung geboten hätte; wundersame Eispaläste mit dem Inferno des Jupiter am Himmel – so hatten es sich die Leute zumindest am Anfang vorgestellt. Aber es war nie so weit gekommen, weil man in dem Ozean unter dem Eis außerirdisches Leben gefunden hatte, eine vollständige Ökologie von Algen, Chemotrophen, Lithothrophen, Methanbildnern, Pflanzen- und Aasfressern, Saprobionten, die alle schwammen, dahinkrochen, die Oberflächen abgrasten oder das Gewässer filterten, sich in den Untergrund krallten oder hineingruben; und das war ein Problem. Manche waren der Meinung, dass man diesen Ozean bereits durch die ersten Forschungsexpeditionen kontaminiert hatte. Die Untersuchung mit einem Bohrer brachte das gleiche Dilemma wie beim Wostoksee mit sich, nur in einem größeren Maßstab. Immerhin hatte man bei der Sterilisierung der Sonden keine Mühen gescheut, und dann, nachdem man die gesamte Ökologie erforscht und Proben genommen hatte, hatte man das Loch versiegelt und saß nun in wissenschaftlichen Forschungsstationen an der Oberfläche, um die Proben weiter zu kultivieren und zu studieren und sich zu fragen, ob man dableiben oder verschwinden sollte und wie sich der weitere Aufenthalt im ersteren Fall gestalten sollte. Vielleicht gab es überhaupt kein Problem mit der Eispalast-Idee, solange das Leben in der Tiefe durch die zehn Kilometer dicke Glaziosphäre zwischen der Mondoberfläche und dem Ozean vollständig abgeschottet war. Andererseits fand das Leben bekanntermaßen stets einen Weg, sich Spermatozoen gleich auch durch schwierigste Passagen hin zu jeder erreichbaren Nische zu winden, und so würde jedwede Form der Besiedelung des Monds mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Kontamination nach sich ziehen. Da diese Geschöpfe andererseits ohnehin entfernte Verwandte des Erdenlebens zu sein schienen, eine Seitenlinie, vor langer Zeit nach einer Meteoritenreise abgezweigt – und durch den ersten Besuch bereits wieder aufs Neue mit ihrem Ursprung vermischt –, würde es tatsächlich so schlimm sein, über ihnen zu leben und sie weiterhin in kleinen Dosen zu kontaminieren? Wo es doch da draußen bereits Menschen gab, die das mikroskopische außerirdische Leben schluckten und es sich in die Adern spritzten? Und wo doch das Leben seit jeher im Sonnensystem umhersprang und dabei immer wieder Familientreffen stattfanden? Das waren offene und für die Europaner und Jupiteraner hochinteressante, für den Rest des Sonnensystems allerdings weniger bedeutsame Fragen. Von ihren Tagen als Designerin war Swan noch ein gewisses Interesse für das Dilemma geblieben, und sie hieß die jüngste Entscheidung gut, Europa nun doch zu besiedeln und sich dabei dezent oberhalb des einheimischen Wasserlebens zu halten.
Während sie auf ihren Flug nach Io wartete, verbrachte sie ihre Zeit damit, über die Hochstraße zu wandern, die einmal um den vierten Ring Walhallas verlief. Noch immer ging sie Wahram aus dem Weg, der sie mittlerweile mit einer so ängstlichen und sorgenvollen Miene ansah, dass es ihr unerträglich war. Über ihr leuchtete Jupiter in all seiner grellen Pracht. Vielleicht war die Egozentrik der Jupiteraner nicht ganz unberechtigt: Sie hatten hier ein eigenes kleines Sonnensystem, mit vielerlei Himmelskörpern. Zwischen den Kraterringen lag die Oberfläche Kallistos, eine weite, weiße, vernarbte Ebene, und Jupiter und die anderen drei Monde führten am Himmel ihren Tanz auf. Es war eine atemberaubende Weite.
Aber sie waren hier, um sich mit Wang zu treffen, und bald war Swan den Anblick des Himmels leid und wartete ungeduldig auf ihre Fähre nach Io. Jupiter, der am Himmel seine Possen riss – das war keine Kunst, sondern Chemie, ein schlichtes fraktales Wiederholungsmuster. Das einzig Gute daran war, dass man kürzlich große Gaslampen in der oberen Jupiteratmosphäre entzündet hatte, um mehr Licht für die Städte auf der dem Jupiter zugewandten Seite der Galilei’schen Monde zu haben. Man konnte zusehen, wie diese schmerzhaft hellen Diamanten die oberste Wolkendecke verwirbelten und neue Strudel und Strömungen erzeugten – dadurch wurde es Kunst, eine Art verrücktes Goldsworthy.
Schließlich war es an der Zeit für ihren Flug nach Io.
Swan sagte: »Pauline, kommst du dort unten zurecht?«
»Wenn du zurechtkommst, dann komme ich auch zurecht. Zur Sicherheit musst du auf jeden Fall innerhalb des Faraday’schen Käfigs bleiben. Das werden dir die Jupiteraner wahrscheinlich auch noch mal sagen.«
Und genau das taten sie im Verlauf der Reise, und zwar ausführlich. Wie russische Holzpuppen saßen sie in einer Kiste, die sich in einer Kiste befand: so stolz. Hinab zum Io, während ihr Raumschiff eine tosende Aura hinter sich herzog, einen Feuersturm aus durchscheinenden, blau-grün-elektrischen Bannern, Bannern und Flammenzungen, die in weiten Bögen in den Raum hinausleckten.
Io
Io, der innerste Mond des Jupiter, ist so groß wie Luna. Eine gelbe Welt aus Schlacke, der erstaunliche Auswurf von Mondeingeweiden, immer wieder aufs Neue verdaut und ausgespien. Schon seit Langem ist alles, was flüchtiger ist als Schwefel, verbrannt und verdampft. Schwefel, Schwefel überall, und kaum ein Fleck, auf dem man stehen kann. Vierhundert aktive Vulkane ragen aus der Schlacke wie entzündete Pocken und schleudern Schwefeldioxid Hunderte von Kilometern in die Höhe. Ein Mond, dessen Inneres heißer ist als das der Erde – und wer wissen will, wie heiß es im Innern der Erde ist, sollte seine Hand mal in den Dampf halten, der aus den Vulkanschloten auf Nea Kameni in der Caldera von Santorin dringt. Er sieht aus wie der Dampf auf einem Herd, aber man stellt schnell fest, dass er dreimal so heiß ist. Selbst wenn man die Hand sofort wegzieht, bekommt man Blasen. Und Ios Inneres ist dreißigmal so heiß.
Man sieht es Io an. Es ist eine Höllenwelt, die zwischen den enormen Gezeitenkräften von Jupiter und Europa hin und her gezerrt und beinahe zerrissen wird. Ein sichtbares Zeugnis der Graviationskräfte. Dazu kommt Jupiters weites, hartes Strahlungsfeld, in dem Io brutzelt; selbst Deinococcus radiodurans muss darin vergehen. Nichts lebt auf Io.
Mit Ausnahme der Menschen und dem kleinen Gefolge von Organismen, das sie überallhin mitnehmen. Denn man kann tatsächlich Inseln festen Gesteins in den höheren Regionen jener gewaltigen Vulkane auftreiben, Gänge in dieses Gestein treiben und eine kleine Station dort verstecken. Einen Kubus als Hülle für Wangs Qube. Alles dort muss dreifach abgeschirmt werden, einmal durch physische Wände, dann durch ein Magnetfeld, das stark genug ist, um die Strahlung vom Jupiter aufzuheben; aber dieses Feld genügt wiederum selbst schon, um einen Menschen zu töten, weshalb man darin einen Faraday’schen Käfig braucht, der einen vor dem Schutzschild schützt.