Swan starrte ihn einen Moment lang finster an und zuckte dann mit den Schultern. Sie wollte sich streiten, und einmal mehr wurde ihr klar, dass es sich gut anfühlte, etwas anderes als Alex’ Tod zu finden, worüber sie sich aufregen konnte. Dafür war ihr so ziemlich jeder Anlass recht. Aber letztlich würde ihr das nicht helfen.
Wahram versuchte, das Gespräch wieder auf das Thema Erde zu lenken. »Alex meinte, dass wir uns die Erde wie unsere Sonne vorstellen sollten. Wir drehen uns alle um sie, und sie übt eine gewaltige Anziehungskraft auf uns aus. Und weil jeder einzelne Raumer ab und an ein Sabbatjahr braucht, können wir nicht einfach so tun, als gäbe es sie nicht.«
»Eigentlich gibt es eine ganze Menge Gründe, warum wir das nicht können«, stellte Wang fest.
»Stimmt«, sagte Wahram. »Also. Wir sind fest entschlossen, Alex’ Projekte weiter voranzutreiben. Du kannst uns dabei helfen. Dein Qube hat jetzt ihre Liste mit Kontakten. Es wird nicht leicht sein, die ganze Gruppe an Bord zu halten. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.«
Swan, unbefriedigt von solch vagen Allgemeinplätzen, betrachtete einmal mehr das neue Bild in dem Tisch. Schließlich sagte sie: »Mit wem auf der Erde hat sie vor allem zusammengearbeitet?«
Wahram zuckte mit den Schultern. »Mit vielen Leuten. Aber ihre Hauptkontaktperson war Zasha.«
»Was?«, fragte Swan verblüfft. »Wirklich Zasha?«
»Was erstaunt Sie daran?«
»Nun ja, wir waren mal verpartnert.«
»Das wusste ich nicht. Tja, Alex hat sich jedenfalls ganz auf Zasha verlassen, um ein Bild von der Lage auf der Erde zu erhalten.«
Swan war sich vage bewusst gewesen, dass Zasha mit dem Merkur-Haus in Manhattan zu tun hatte, aber sie hatte niemals gehört, dass Alex von Zasha gesprochen hätte, oder umgekehrt. Schon wieder erfuhr sie etwas Neues über Alex, und mit einem Mal wurde Swan klar, dass es von nun an so weitergehen würde: Sie würde nicht mehr Neues von Alex erfahren, sondern Neues über sie. Das war die Art, auf die Alex weiterleben würde, und obwohl es nicht viel war, war es besser als nichts. Besser als die Leere. Und wenn Zasha mit ihr zusammengearbeitet hatte …
»Alles klar«, sagte Swan. »Sobald euer Inspektor uns hier rauslässt, fliege ich zur Erde.«
Wahram nickte zögerlich.
Swan fragte: »Was machen Sie?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich muss zum Saturn und Bericht erstatten.«
»Sehen wir uns wieder?«
»Ja, danke.« Trotz dieser Worte schien die Vorstellung ihm nicht ganz zu behagen. »Ich werde schon bald nach Terminator zurückkehren. Die Vulkanoiden haben sich mit dem Rat der Saturn-Liga in Verbindung gesetzt. Anscheinend haben sie auch irgendeine mündliche Abmachung mit Alex getroffen. Da sind vulkanoide Lichtübertragungen zum Saturn in Vorbereitung, und ich bin derzeit der Botschafter der Liga bei den inneren Planeten. Wir sehen uns also, wenn Sie zum Merkur zurückkehren.«
Auszüge (2)
die Geschichte zu vereinfachen bedeutet, die Wirklichkeit zu verzerren. Zu Beginn des 24. Jahrhunderts passierte zu viel auf einmal, um alles im Blick zu haben oder zu verstehen. Die emsigen Versuche zeitgenössischer Historiker, ein verbindliches Paradigma herauszuarbeiten, sind fehlgeschlagen; und bei uns, die wir heute auf sie zurückblicken, ist es nicht anders. Es ist schwer, auch nur genug Fakten und Einzelheiten für Spekulationen zusammenzutragen. Es gab dort draußen Tausende von Stadtstaaten, die durchs System sausten und von denen jeder seine eigene Präsenz in der Daten-Cloud hatte oder in eben dieser fehlte, und die zusammengenommen – was ergaben? Das gleiche Durcheinander, das die Geschichte seit jeher ausmacht, nur dass es nun voll entfaltet, mathematisiert, erblüht war – oder, wie man damals sagte, balkanisiert. Keine Beschreibung kann
Knotenpunkte der Instabilität, an denen zahlreiche Belastungsstellen auf einmal nachgeben – in diesem Fall der Rückzug des Mars aus dem Mondragon, seine gegenimperiale Kampagne auf der Erde und die Rückkehr der Jupitermonde auf die interplanetare Bühne. Als erste Siedler jenseits des Mars wurden die Jupiteraner nicht nur durch Pfadabhängigkeit von älterer, weniger leistungsstarker Siedlungstechnologie behindert, sondern auch von der Entdeckung von Leben im Inneren von Ganymed und Europa und von Jupiters harter Strahlung. Später führten leistungsstärkere Siedlungsstrategien und die Terraformingbemühungen auf Venus und Titan dazu, dass die Jupiteraner ihre Stationen, Kuppeln und Zelt-Luxemburgs für nunmehr unzureichend befanden. Obwohl Io auf Dauer unzugänglich blieb, stellten die drei verbleibenden Galilei’schen Monde potenziell eine gewaltige Gesamtoberfläche bereit. Es waren die Lösung ihrer internen Konflikte und ihre gemeinsame Hinwendung zum vollständigen Terraforming, die die launischen Märkte ins Chaos stürzten und die nichtlinearen Brüche der darauffolgenden zwei Jahrzehnte auslösten
damit waren sie zu ihrem eigenen, unvermeidlichen Experiment geworden, und sie machten vieles aus sich, was sie nie zuvor gewesen waren: verbessert, vielgeschlechtlich und vor allem sehr langlebig. Die Ältesten von ihnen waren damals um die zweihundert Jahre alt. Trotzdem waren sie kein Gran weiser oder auch nur intelligenter geworden. Traurig, aber wahr: Die individuelle Intelligenz hatte ihre Hochzeit wahrscheinlich im Jungpaläolithikum. Seitdem sind wir selbst domestizierte Geschöpfe, Hunde, die einmal Wölfe gewesen sind. Aber trotz dieses individuellen Absinkens fand man Wege zur Anhäufung von Wissen und Macht, sammelte Daten und auch Techniken, Praktiken, Wissenschaften
waren deshalb zwar möglicherweise als Spezies klüger, als sie es als Individuen waren, neigten aber dennoch zum Wahnsinn und verharrten im Jetzt, einem Jetzt, das für uns verloren ist – die Zeit, als die Menschen in der heute nahezu vergessenen Technologie und Kultur der Balkanisierung lebten, der Zeit unmittelbar vor dem Jahr 2312 …
Moment maclass="underline" So weit sind wir noch nicht
Listen (3)
Alkohol, Fasten, Dürsten, Schwitzhütten, Selbstverstümmelung, Schlafentzug, Tanzen, Bluten, Pilze, Untertauchen in Eiswasser, Kava, Flagellation mit Dornen oder Tierzähnen, Kaktusfleisch, Tabak,
sich den Elementen aussetzen, Langstreckenlauf, Hypnose, Meditation, rhythmisches Trommeln und Singen, Jimson-Kraut, Tollkirsche, Salvia Divinorum, ätherische oder duftende Öle, Krötenschweiß, tantrischer Sex,
sich im Kreis drehen, Amphetamine, Sedative, Opiate, Halluzinogene, Lachgas, Oxytocin, die Luft anhalten, von Klippen springen, Nitrite, Kratom, Kokablätter, Kakao, Koffein, Entheogene …
Äthylen, ein entheogenes Gas, entweicht unter Delphi aus dem Boden
Swan im Dunkeln
Als sie die Station auf Io verlassen durften, machte Swan sich Richtung Erde auf. Wie sich herausstellte, war das nächste Passagierschiff auf dem Weg ins Systeminnere ein Blackliner. Da Swan nach wie vor die schwarze Leere von Alex’ Abwesenheit in ihrem Innern spürte, entschied sie sich dafür. Wahram verabschiedete sie mit der besorgten Miene, die inzwischen typisch für ihn war.
In dem Blackliner herrschte Dunkelheit. Es war die denkbar schwärzeste Finsternis, wie man sie sonst nur in einer Höhle tief unter der Erde finden würde. Das Terrarium drehte sich kaum, weshalb die Gravitation überall an Bord sehr gering war. Die Leute schwebten in der Finsternis, nackt, bekleidet oder in Raumanzügen. Um die Gebäude und die schwebenden Gondeln herum trieb eine Gesellschaft von Blinden sacht durch eine Welt des Schalls. Fledermausmenschen. Manchmal gab es Interaktionen, Gespräche, Umarmungen; manchmal hörte man Hilferufe, und die Ordnungshüter, die mit ihren Infrarotbrillen als Einzige sehen konnten, waren unterwegs, um Hilfestellung zu geben. Doch den meisten Passagieren ging es gerade darum, für eine Weile blind zu sein. Für manche war es eine Buße und für manche eine Art spirituelle Reise; und für manche handelte es sich um eine neue Art von Sex. Swan wusste nicht, was sie sich davon versprach. Angesichts ihrer derzeitigen Gefühle hatte es einfach richtig geklungen.