So trieb sie also durch reine, völlige Schwärze. Sie hatte die Augen geöffnet, und trotzdem sah sie nicht das Geringste: nicht die Hand vor ihrem Gesicht und nirgendwo auch nur einen Schimmer von Licht. Der Raum, in dem sie sich befand, wirkte so grenzenlos wie der Kosmos selbst, oder wie ein Sack über ihrem Kopf. Hier und da hörte sie Stimmen, die aus verschiedenen Entfernungen an ihr Ohr drangen. Sie klangen alle gedämpft, als wäre es ganz natürlich, im Dunkeln zu flüstern – wobei, nach der schwachen Anziehungskraft zu urteilen, weiter vorne entlang der Mittelachse anscheinend eine Art Mannschaftsspiel gespielt wurde, mit Pfiffen und akustischen Signalen und lautem Gelächter. Aus einer anderen Richtung drangen die Klänge einer Gitarre und einer Oboe, die ein barockes Duett spielten. Vorsichtig stieß sie sich in diese Richtung ab, weil sie besser hören wollte. Wenn sie die Entfernung halbierte, verdoppelte sich die Lautstärke. Auf dem Weg vernahm sie die gemeinsamen Atemzüge eines Paars, das Sex hatte, oder zumindest machte es den Eindruck. Es war ein Geräusch, das genauso eine Menschenmenge anlocken konnte wie Musik oder ein Spiel. Es hatte schon Übergriffe in Blacklinern gegeben; Menschen hatten Unaussprechliches getan, zumindest erzählte man sich das. Schwer vorstellbar, dass jemand sich einem anderen auf solch drastische Weise aufdrängen würde. Was konnte so dringend daran sein? Wozu sollte das gut sein?
Nach einer Weile war die anhaltende vollkommene Dunkelheit vor ihren Augen mit Farbflecken übersät und dann von Erinnerungen an Bilder, die in ihren Augen gespeichert zu sein schienen. Sie schloss die Lider, und mit einem Mal war alles voller bunter Farbstreifen; es erinnerte sie daran, wie sie vor Jahren einmal die enceladanische Fremdwesen-Suite eingenommen hatte, eine Verrücktheit, an die sie normalerweise nicht bewusst zurückdachte. Die Gläubigen, die um die brennenden Kerzen herumsaßen; Pauline, die erst seit Kurzem Teil ihres Körpers war und sie bat, es nicht zu tun; der kleine Kelch, randvoll mit Enceladusea irwinii und anderen mikroskopischen enceladanischen Lebensformen; der Gläubige, der ihr den Kelch reichte und sagte: »Verstehst du?«, und Swan, die bejahte, die größte Lüge ihres Lebens; der Geschmack des Gebräus, wie Blut; wie ihr Magen sich aufgebäumt hatte; wie das Kerzenlicht nach einem Moment der Schwärze wiedergekehrt war und immer heller wurde, bis man nicht mehr hineinschauen konnte; wie das Tosen von Wellen am Strand ihren Leib durchspült hatte, wie alles sich zum Bersten mit buntem Glitzern angefüllt und der Saturn plötzlich wie ein Konfekt aus Minze und Melone ausgesehen hatte. Ja, eine Phase der Synästhesie, in der all ihre Sinne hell aufflackerten; und irgendwann hatte sie die Erkenntnis getroffen, dass sie nie wieder dieselbe sein würde. War es klug gewesen, sich mit einer fremden Lebensform zu infizieren? Nein, das war es nicht! Sie schrie wie eine Vergiftete; gefangen in einem Kaleidoskop, mit einem Rauschen auf den Ohren, rief sie immer wieder: Aber ich war … ich war Swan … ich war … ich war Swan …
Sie gab sich alle Mühe, die lebhafte Erinnerung auszutreiben, hinfort in die Finsternis. Vor Anstrengung hatte sich ihr Körper zusammengekrampft, sodass sie sich in der Schwerelosigkeit um die eigene Achse drehte. Dabei gewann sie den Eindruck, dass die Gitarre und die Oboe, die sie gehört hatte, in Wirklichkeit ein gutes Stück voneinander entfernt waren. Handelte es sich überhaupt um ein Duett? Wie war das möglich, wenn die beiden Musikanten einen halben Kilometer voneinander entfernt waren? Durch die Entfernung konnte jeder den anderen nur zeitverzögert hören. Sie versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren und herauszuhören, ob sie zusammenspielten oder nicht. In der absoluten Schwärze würde sie es niemals erfahren.
Missmutig begriff sie, dass es für ihren gesamten Aufenthalt hier so weitergehen würde. Es gab keine Gesichter, an denen sich der Blick festhalten konnte, nicht das Geringste zu sehen – ihre Erinnerungen und ihr Vorstellungsvermögen würden Amok laufen, ihre ausgehungerten Sinne würden um sich selbst kreisen und Fantasiegebilde ersinnen –, nichts außer ihrem eigenen Elend würde ihr Gesellschaft leisten. Reines Sein, unverfälschtes Denken, in dem sich zeigte, was die Welt der Erscheinungen verbergen, aber nicht verändern konnte: die Leere im Herzen der Dinge.
Als ihr Magen knurrte, aß sie etwas aus ihrem Gürtel. Sie erleichterte sich in einen Beutel in ihrem Anzug, den sie anschließend versiegelt Richtung Boden warf; Putzroboter würden ihn aufspüren und beseitigen. Immer wieder sah sie Alex’ Gesicht vor sich, und sie klammerte sich an diese kostbaren Erinnerungen, die sie niemals aufgeben durfte, obwohl der Anblick sie gleichzeitig vor Schmerz aufstöhnen ließ. Unfähig, sich zu beherrschen, blökte sie wie ein verletztes Tier.
»Möglicherweise erlebst du gerade eine hypothypotische Episode«, sagte Pauline laut. »Die visuelle Einbildung von Dingen, die du nicht wirklich vor Augen hast.«
»Halt die Klappe, Pauline.« Doch kurz darauf sagte sie: »Nein, tut mir leid. Red bitte weiter.«
»In manchen Rhetoriken ist eine Aporie ein vorgeblicher Zweifel, der einer erneuten Attacke vorausgeht, wie bei Gilbert über Joyce. Aber für Aristoteles ist sie ein unlösbares Problem, das sich bei einer Fragestellung aus gleich glaubhaften, aber nicht miteinander vereinbaren Prämissen ergibt. Er schreibt, dass Sokrates Menschen gerne in derartige Widersprüche verwickelt hat, um ihnen zu zeigen, dass sie das, was sie zu wissen meinen, eigentlich nicht wissen. In seinem Buch über Metaphysik schreibt er: ›Zum Behufe der gesuchten Wissenschaft ist es nötig, zunächst die Gegenstände in Betracht zu ziehen, welche zunächst Zweifel erwecken müssen.‹ Derrida hat den Begriff der Aporien später aufgegriffen, um damit so etwas wie die Leerstellen in unserem Begreifen zu bezeichnen, von denen wir nicht einmal wissen, und nahegelegt, dass wir versuchen sollten, sie zu erkennen. Das ist ein etwas anderer Gedanke, der aber Teil einer Bedeutungskonstellation ist. Das Oxford English Dictionary führt ein Zitat aus J. Smiths Mystical Rhetoric von 1657 an, laut dem sich Aporien auf die Frage beziehen, ›was man in Hinsicht auf etwas Seltsames oder Ambivalentes tun oder sagen soll‹.«
»Wie zum Beispiel jetzt gerade.«
»Ja. Es kommt noch mehr. Das griechische Wort leitet sich aus dem a für ›nicht‹ und aus poros für ›Durchgang‹ her. Aber im platonischen Mythos beschließt Penia, das Kind der Armut, sich von Poros, der Personifikation des Überflusses, schwängern zu lassen. Ihr Kind ist Eros, der die Eigenschaften seiner Eltern in sich vereint. Hierbei wird für verwunderlich erachtet, dass Penia als findig dargestellt wird, während der Wohlstand betrunken und passiv ist …«
»Das ist kein bisschen verwunderlich.«
»Obwohl also Penia nicht Poros ist, ist sie gleichfalls auch nicht a-poria. Man beschreibt sie als weder männlich noch weiblich, weder reich noch arm, weder als bemittelt noch als mittellos. Was den Begriff aporia noch unübersetzbarer macht.«
»Ich bin eine Aporie. Und ich bin in einer Aporie. Diesem Blackliner.«
»Genau.«
All das Reden und Nachdenken war schön und gut – »Danke, Pauline« –, aber letztlich musste sie immer noch eine ganze weitere Woche überstehen, und Alex’ Tod blieb ihr ständig gegenwärtig. Sie schwebte in einem Zwischenreich und versuchte, das zu denken, was ein ungeborenes Kind denken würde. Voller Zweifel, Kind einer Armut. Um als andere Swan wiedergeboren zu werden.
Doch später – in dieser zeitlosen Schwebe, in der sie ihren unablässig zum selben Punkt zurückkehrenden Gedankenschleifen folgte, kam es ihr sehr viel später vor –, später, als ein Signalton in ihrem Anzug ihr mitteilte, dass ihre Reise zu Ende war, begriff sie, dass sie das Raumschiff als dieselbe Swan verlassen würde, als die sie es betreten hatte. Es gab kein Entrinnen.