In Quito angekommen fuhr Swan mit der Bahn zum Flughafen und ging an Bord einer Maschine nach New York. Die Karibik leuchtete kobalt-, türkis- und jadefarben; selbst die braunen Umrisse der versunkenen Halbinsel Florida unter der Meeresoberfläche schimmerten jaspisfarben. Der atemberaubende Glanz der Erde.
Ein eher stahlfarbener Ozean brandete weiß gegen Long Island, als sie zu einem ruckelnden Landeanflug ansetzten. Dann setzten sie auf einer Landebahn irgendwo auf dem Festland nördlich von Manhattan auf, und endlich war Swan raus aus all den Reisebehältnissen, den Innenräumen und Transportmitteln und Fluren und Korridoren und unter freiem Himmel.
Einfach nur draußen in der freien Luft zu sein, unter dem Himmel, im Wind – das war es, was sie an der Erde am meisten liebte. Heute ballten sich in etwa dreihundert Metern Höhe dicke Wolken über ihrem Kopf. Anscheinend wogte soeben eine marine Wetterlage heran. Sie rannte auf eine Art gepflasterten Parkplatz voller Laster und Busse und Anhänger hinaus, sprang umher, schrie zum Himmel empor, sank auf die Knie und küsste den Boden, stieß Wolfsgeheul aus und legte sich schließlich, nachdem sie ein wenig hyperventiliert hatte, mit dem Rücken auf den Boden. Auf einen Handstand verzichtete sie – vor langer Zeit schon hatte sie gelernt, dass es auf der Erde wirklich schwer war, einen Handstand hinzubekommen. Außerdem tat ihr noch die Rippe weh.
Durch die Lücken in der Wolkendecke konnte sie das feine, aber dunkle Blau des Erdenhimmels sehen, leicht und kräftig zugleich. Er wirkte wie eine blaue, in der Mitte abgeflachte Kuppel, die ein paar Kilometer über den Wolken schwebte – sie streckte die Hand danach aus –, obwohl sie wusste, dass seine Pracht einzig und allein von einer Art Regenbogeneffekt herrührte. Ein Regenbogen, der überall blau war und alles einhüllte. Das Blau selbst war eine komplexe Farbe, von geringer Bandbreite, aber innerhalb dieser Bandbreite unendlich vielfältig. Es war ein berauschender Anblick, den man regelrecht aufsaugen konnte – man tat das unweigerlich, man atmete ihn ein. Der Wind trieb ihn einem in die Lungen! Atmen und sich berauschen, o ja, von allen Fesseln befreit, kaum bekleidet auf der nackten Oberfläche eines Planeten liegen und seine Atmosphäre trinken wie ein Lebenselixier, in der Brust spüren, wie sie einen am Leben hielt! Kein Terraner, der ihr jemals begegnet war, wusste die Luft wirklich zu schätzen oder sah seinen Himmel in seiner ganzen Pracht. Tatsächlich schauten sie nur selten zu ihm empor.
Sie sammelte sich und ging zum Hafen. Eine große, brummende Wasserfähre nahm sie und zahlreiche andere an Bord, und nachdem sie sich ihren Weg durch einen überfüllten Kanal gebahnt hatte, waren sie schließlich auf dem Hudson River und fuhren Richtung Manhattan. Die Fähre machte einen Zwischenhalt bei den Washington Heights, aber Swan blieb an Bord, während sie sich weiter Richtung Innenstadt durch den Hudson River pflügte. Einige Teile Manhattans befanden sich noch über Wasser, aber der Großteil war überflutet. Die ehemaligen Straßen waren zu Kanälen geworden, und die Stadt hatte sich in ein langgestrecktes Venedig verwandelt, ein Wolkenkratzer-Venedig, ein Riesenvenedig – also in etwas sehr Schönes. Tatsächlich war es mittlerweile ein abgeschmacktes Klischee zu betonen, dass die Stadt durch die Überflutung aufgewertet worden sei. Die lange Reihe von Wolkenkratzern sah aus wie die Wirbelsäule eines Drachen. Die perspektivische Verkürzung ließ die Gebäude beim Näherkommen kleiner erscheinen, als sie es wirklich waren, aber trotzdem war ihre schiere Vertikalität beeindruckend. Ein Wald von Dolmen!
Am Pier an der 30th Street ging Swan von Bord und über den breiten Laufsteg zwischen den Gebäuden zum ausgebauten High-Line-Park mit seinen sich weit nach Norden und Süden erstreckenden Plätzen voller Menschen. Manhattan zu Fuß: Arbeiter schoben ihre kleinen Handkarren durch das Gedränge auf den Hochwegen zwischen den inselartigen Wohnvierteln, die in verschiedenen Höhen zwischen den Wolkenkratzern hingen. Die Dächer waren begrünt, aber in erster Linie bestand die Stadt aus Stahl, Beton und Glas – und Meer. Boote kräuselten das Wasser unter den Laufstegen und in den Straßen, die nun viel befahrene Kanäle waren. All die höher gelegenen Plätze und Laufstege waren voll dicht gedrängter Menschen. Manhattan war so überfüllt wie eh und je, hieß es. Swan wich den Menschen in der Menge aus, schlängelte sich zwischen den beiden Laufrichtungen hin und her und erfreute sich an den zahllosen Gesichtern. Sie waren ebenso vielfältig wie eine beliebige Ansammlung von Raumern, nur ihre Größe entsprach weit mehr dem Durchschnitt – der übrigens eher klein war –, und es waren nur wenige Kleine und Große zu sehen. Asiatische Gesichter, afrikanische, europäische – alles außer amerikanischen Ureinwohnern, wie es ihr in Manhattan immer wieder auffiel. Wenn das mal keine biologische Invasion war!
Ein Gebäude, an dem sie vorbeikam, hatte das alte Erdgeschoss leergepumpt und verwendete es nun als eine Art große Badewanne voll Luft. Sie hatte gehört, dass der Markt für unterseeische und Gezeitenbereichs-Grundstücke boomte. Man redete sogar davon, das U-Bahn-Netz leerzupumpen, das dort, wo es überirdisch verlief, immer noch funktionierte. Das Glucksen des Wassers unter ihr bildete eine allgegenwärtige Geräuschkulisse. Menschliche Stimmen und die Geräusche des Wassers, die Schreie der Möwen am Hafen und das Rauschen des Windes zwischen den Gebäudeschluchten; so klang die Stadt. Das Wasser unter ihr war von zahlreichen einander überschneidenden Kielwasserbahnen aufgewühlt. Hinter ihr, die Straße entlang Richtung Westen, tanzten kleine Flocken von Sonnenlicht über den großen Fluss. Das liebte sie an der Erde – sie war draußen, wirklich im Freien. Sie stand auf der Oberfläche eines Planeten. In der tollsten Stadt, die es gab.
Sie sprang ein paar Stufen hinunter und stieg in ein Vaporetto, das die 8th Avenue entlangtuckerte. Die Fähre war lang und lag tief im Wasser. An Bord gab es Sitzplätze für etwa fünfzig Personen und Stehplätze für weitere hundert. Alle paar Häuserblocks hielt sie. Swan beugte sich über die Reling und schaute auf den Kanal hinab: ein Fluss am Grunde einer Schlucht, links und rechts Gebäude statt Felswände. Sehr futuristisch. Dort, wo die 26th Street von einer langen Promenade überspannt wurde, die sich bis hinüber zum East River erstreckte, stieg sie aus. Ein Großteil der von Osten nach Westen verlaufenden Straßen hatten derartige Hochplattformen, sodass die geschäftigen Kanäle darunter fast den ganzen Tag über im Schatten lagen. Wenn das Sonnenlicht durch die Spalten dazwischen fiel, verlieh es den Dingen einen bronzefarbenen Glanz, und das blaue Wasser wurde metallisch weiß. Den Einwohnern New Yorks schien dieser Effekt nicht aufzufallen, aber andererseits lebten hier trotz der Wasser zwanzig Millionen Menschen, und Swan vermutete, dass die Schönheit dieses Orts dabei keine völlig unwesentliche Rolle spielte, auch wenn die Leute anscheinend lieber nicht darüber redeten. Der Gedanke daran, wie abgebrüht die Leute hier sich wahrscheinlich vorkamen, brachte sie zum Lachen. Swan war nicht abgebrüht, und sie stammte auch nicht aus New York, dieser Ort war einfach erstaunlich, und sie wusste, dass dessen Bewohnern das sehr wohl auch bewusst war. Wenn das mal keine Landschaftskunst war! »Die Geografie der Welt, allein durch menschliche Logik und Optik vereint«, sang sie, »durch kunstvollen Lichteinfall und Farbwahl, durch gefällige Anordnung, durch die Vorstellung vom Guten, Wahren und Schönen!« Man hätte Lowenthals ganzes Oratio auf den Laufstegen Manhattans singen können, ohne dass sich jemand darum geschert hätte.