Sie ging so viel wie möglich in der Sonne. Das waren die unmittelbaren Strahlen Sols, die auf ihre nackte Haut knallten. Es war erstaunlich, dass man im Licht der Sonne stehen konnte, ohne dabei umzukommen. Dies war der einzige Ort im Sonnensystems, wo das möglich war. Die Biohülle um einen Stern herum war dünn wie eine Seifenblase. Diese Blase des Lebens dicker zu machen – vielleicht war das das menschliche Projekt. Dass sie die Blase bis um den Mars herum ausgedehnt hatten, war bereits bemerkenswert. Wenn es ihnen gelang, sie nach innen bis zur Venus zu strecken, wäre das sogar noch bemerkenswerter. Doch die Erde würde immer der perfekte Ort bleiben. Kein Wunder, dass diese alte Welt so viele Geheimnisse bereithielt, dass all die Wechselfälle des Lebens so atemberaubend wirkten. Metamorphosen passten zur Erde, und sie ereigneten sich unablässig. Die große Flut war ein Sturz gewesen, der sich als Glücksfall erwiesen hatte, sie hatte zur Entfaltung auf einer höheren Ebene geführt. Die Welt war gegossen worden. Blüten sprossen aus dem Blätterzweig. Sie war zurück.
Das Merkur-Haus war unten beim Museum of Modern Art. Viele der Gemälde aus dem Museum befanden sich nun auf dem Merkur, und man hatte nur Kopien zurückgelassen. In einer ungewöhnlichen Geste hatte man hier einen Ausstellungsraum der Kunst vom Merkur gewidmet. Natürlich war die Gruppe der Neun prominent vertreten. Für Swans Geschmack war es ein bisschen zu viel Sonne und Felsgestein. Und sie hatte den Einsatz von Leinwand als Medium seit jeher seltsam gefunden. Es war ein bisschen, wie wenn man sich Elfenbeinschnitzereien oder andere antike Exotika ansah. Wenn man die Welt und seinen Leib als Leinwand hatte, warum sollte man sich dann mit Tapetenstückchen zufriedengeben? Das war wirklich eigenartig, aber im Endergebnis deshalb vielleicht ebenso interessant. Alex und Mqaret hatten einmal einen Empfang für die Neun abgehalten, und Swan hatte viele von ihnen kennengelernt und sich gerne mit ihnen unterhalten.
Oben auf der Dachterrasse des Merkur-Hauses, etwa dreißig Stockwerke über dem Wasserspiegel, traf sie eine Gruppe von Merkurianern an der Bar an. Die meisten trugen Exoskelette oder Leibhalter, was Swan selbst dort, wo sie durch Kleidung verdeckt waren, an der Art erkannte, wie ihre Träger standen, lässig und leicht zur Seite geneigt, wie im Wasser. Diejenigen ohne solche Stützen standen mehr oder weniger tapfer stramm und trugen die Last der Erde mit angestrengten Mienen. Swan selbst ging es ähnlich. Man konnte machen, was man wollte, die Belastung von 1 g machte einem erst einmal zu schaffen.
Das New Yorker Büro wurde von einem uralten Terraner namens Milan geleitet, der für jeden ein herzallerliebstes Lächeln übrig hatte. »Swan, mein Schatz, wie lieb von dir, dass du vorbeikommst.«
»Ach, es ist mir ein Vergnügen, ich liebe New York.«
»Gesegnete Unwissenheit, mein Kind. Ich bin froh, dass es dir gefällt. Und ich bin froh, dass du hier bist. Komm, ich will dich ein paar von meinen Neuen vorstellen.«
Und so lernte Swan einige Angehörige des örtlichen Teams kennen, ließ ihre Beileidsbekundungen wegen Alex über sich ergehen und gab einen kurzen, ungenauen Bericht über ihre Reise zum Jupiter ab. Die Leute hatten eine Idee nach der anderen zum Thema Mondragon, die sie ihr alle mitteilten.
Als sie fertig waren, sagte Swan zu Milan: »Ist Zasha noch hier?«
»Zasha wird diese Stadt niemals verlassen«, antwortete Milan. »Das wirst du doch wissen. Hast du nicht gesehen, was Z zuletzt ausgebrütet hat? Es ist auf einem der Hudson-Piers.«
Also nahm Swan die Fähre zurück zur 8th Avenue und stieg dort eine Treppe zu einem Laufsteg empor, der nach Westen führte.
Da all die alten Anlegestellen elf Meter unter Wasser lagen, hatte man neue bauen müssen. Teilweise handelte es sich um alte Piers, die man geborgen und auf Stelzen gestellt hatte; andere waren neu und nutzten die alten teilweise als Fundament. Kleinere Schwimmdocks füllten die Lücken und waren an Piers oder nahen Gebäuden befestigt, auf Höhe des ehemaligen vierten Stockwerks. Einige dieser Docks waren mobil und bewegten sich wie Kähne umher. Es war ein trügerisches Ufer.
Auf manchen der überfluteten Anlegestellen waren mittlerweile Aquakulturen angelegt worden, und Zasha betrieb anscheinend eine Pharm auf einem dieser Piers, stellte dort aus Fischen gewonnene Medikamente und Biokeramiken her und erledigte nebenher das eine oder andere für das Merkur-Haus – und für Alex.
Swan hatte vorher angerufen, und Zasha nahm sie an dem Zaun in Empfang, der zwischen dem Schwimmdock und der Reihe öffentlicher Plätze westlich der Gansevoort Street am südlichen Ende der High Lane verlief. Nach einer kurzen Umarmung führte Z sie ans äußerste Ende des Docks, von wo aus sie mit einem kleinen, leise tuckernden Boot auf den Hudson River hinausfuhren.
Alles hier bewegte sich mit der Geschwindigkeit des fließenden Gewässers. Der Hudson River war an dieser Stelle breit; die ganze Stadt Terminator hätte in den Hafen von New York gepasst. Überall waren Brücken zu sehen, selbst weit entfernt am südlichen Horizont. Swan konnte kaum glauben, wie viel Wasser es hier gab; nicht einmal auf offener See schien es ihr so viel gewesen zu sein. Dabei handelte es sich nicht einmal um einen der ganz großen Flüsse des Planeten. Die Erde!
Mit zufriedener Miene betrachtete Zasha das Panorama. Fensterfronten oben an den höchsten Wolkenkratzern blitzten im Sonnenlicht auf, und die Gebäude schienen zu leuchten. Die Insel der Wolkenkratzer: Es war der klassische Manhattan-Look, unwahrscheinlich und erlesen.
»Wie läuft es bei dir?«, fragte Swan.
»Ich mag diesen Fluss«, sagte Zasha, als wäre damit ihre Frage beantwortet. »Ich fahre mit dem Motor bis an die Spitze der Insel oder sogar bis zu den Palisaden und lasse mich dann einfach treiben. Dabei werfe ich eine Angelschnur aus. Manchmal fischt man das verrückteste Zeug hier raus.«
»Und das Merkur-Haus?«
Zasha runzelte die Stirn. »Heutzutage gibt man den Raumern die Schuld an allem Möglichen. Die Leute hier unten sind feindselig. Je mehr wir helfen, desto feindseliger werden sie. Aber sie investieren trotzdem weiter in uns.«
»Wie immer«, sagte Swan.
»Tja, beständiges Wachstum. Aber nichts hält für die Ewigkeit. Selbst das Sonnensystem ist ebenso endlich wie die Erde.«
»Meinst du, es wird zu voll? Dass seine Kapazität ausgelastet ist?«
»Eher, dass wir uns dem Punkt nähern, an dem die Erträge nicht mehr weiter wachsen. Aber möglicherweise gibt das den Menschen das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Jedenfalls verhalten sie sich so.«
Zashas Boot trieb in der Ebbeströmung an der Battery vorbei, und der Ausblick auf die Küste von Brooklyn wurde weiter. Die Wolkenkratzer am Fuße Manhattans sahen aus wie eine Gruppe riesiger Schwimmer, die sich im knietiefen Wasser versammelt hatten, um gemeinsam in die kalte Tiefe hinauszulaufen. Zwischen den Gebäuden war das Wasser glasglatt, und die Kanäle waren voller kleiner Boote; auch in der Hafenbucht herrschte reger, wenn auch nicht ganz so dichter Betrieb. Ständig hatte man Hunderte von Wasserfahrzeugen im Blick. Sie konnten beide Flüsse entlangblicken, den Hudson und den East River, und zwischen ihnen verliefen die kleineren, geraderen Flüsse in den Straßenzügen. Über alldem breitete sich ein wolkenverhangener Himmel aus. Wie eine Vision Canalettos. Das glänzende Wasser der Bucht war weiß von den sich spiegelnden Wolken. Es war so schön, dass Swan sich wie in einem Traum fühlte, und in dem schwankenden Boot begann sie leicht zu taumeln.