Danach erhoben sich zwei Pianisten, setzten sich wie Katzen aneinandergeschmiegt an ein großes Klavier und begannen, Beethovens Opus 134 zu spielen, seine Bearbeitung der Großen Fuge. Sie mussten wie Percussion-Künstler in die Tasten greifen, regelrecht auf sie eindreschen. Deutlicher als je zuvor hörte Wahram das komplexe Geflecht der großen Fuge heraus, aber auch die irrsinnige Energie des Stücks, die manische Vision eines gewaltigen knirschenden Uhrwerks. Der harte Ansturm von Klaviertönen verlieh ihm eine Klarheit und Gewalt, die Streicher nicht erzielen konnten, egal, wie sehr sie sich mühten und wie technisch versiert sie waren. Wunderbar.
Im nächsten Beitrag hatte jemand den gleichen Weg in die andere Richtung beschritten und die Hammerklaviersonate für ein Streichquartett arrangiert. Obwohl nun vier Instrumente ein Stück spielten, das für eines geschrieben worden war, war es nach wie vor eine Herausforderung, die Eindringlichkeit der Hammerklaviersonate zu vermitteln. Auf zwei Violinen, eine Bratsche und ein Cello verteilt entfaltete sie sich wunderbar. Der majestätische Zorn des ersten Satzes; die schmerzhafte Schönheit des langsamen Satzes, eines von Beethovens besten; und dann das Finale, eine weitere große Fuge. In Wahrams Ohren klang das alles sehr nach den späten Quartetten – also sozusagen ein neues spätes Quartett, Himmel auch! Es war erschütternd anzuhören. Wahram blickte sich im Publikum um und sah die Flötenspieler und die Pianisten hinter ihren Stühlen stehen, wippen, sich wiegen, die Gesichter gehoben und die Augen geschlossen, als beteten sie; manchmal zuckten sie vor ihren Körpern mit den Händen, als dirigierten oder tanzten sie. Auch Swan tanzte weiter hinten. Die Musik schien sie an einen fernen Ort zu tragen. Wahram war hocherfreut, das zu sehen: Er selbst war weit draußen im Beethoven-Raum, der wahrhaftig gewaltige Ausmaße hatte. Es wäre schockierend gewesen, jemanden anzutreffen, der immun gegen diese Empfindung war; er hätte nicht mehr mit einer solchen Person mitfühlen, sich nicht in sie hineinversetzen können.
Als Zugabe kündigten die Musiker ein Experiment an. Sie teilten die beiden Klaviere, und das Streichquartett setzte sich in einem Kreis mit den Gesichtern nach innen zwischen sie. Dann spielten sie noch einmal die beiden großen Fugen, und zwar gleichzeitig. Die beiden auf den jeweils falschen Instrumenten gespielten Stücke überlagerten sich und erzeugten eine zunehmende kognitive Verwirrung; und die ruhigen Passagen in beiden Stücken kamen zur selben Zeit und bildeten ein treibendes Auge des Sturms, dass die strukturelle Verwandtschaft der beiden Ungetüme verriet. Als beide zu ihren Hauptfugen zurückkehrten, kratzten und hämmerten alle sechs Instrumente wieder in ihren eigenen Welten, teilten in rasendem Zickzack und mit messianischem Getöse sechs verschiedene Melodien aus. Irgendwie fanden sie alle gemeinsam zu einem Ende. Wahram war sich nicht sicher, welches der Stücke erweitert oder abgekürzt worden war, um das zu ermöglichen, aber jedenfalls endeten alle gemeinsam in einem großen Getöse, und alle Anwesenden, insbesondere die Stehenden, konnten nur noch klatschen und jubeln und pfeifen.
»Wundervoll«, sagte Wahram hinterher. »Wirklich.«
Swan schüttelte den Kopf. »Das Ende war zu abgefahren, aber gefallen hat es mir.«
Sie blieben noch, um die Musiker zu beglückwünschen und sich mit ihnen zu unterhalten. Die Musiker waren denkbar interessiert daran, wie das Ganze für Außenstehende geklungen hatte: Mehr als einer bemerkte, dass er sich nur auf seinen eigenen Teil hatte konzentrieren können. Jemand spielte eine Aufnahme ab, und sie hörten sie sich mit den anderen zusammen an, bis die Musiker anfingen, sie immer wieder anzuhalten und die Details zu erörtern.
»Zeit, nach Terminator zurückzukehren«, sagte Swan.
»Alles klar. Ich bin Ihnen so dankbar dafür, es war wirklich wunderbar.«
»War mir ein Vergnügen. Hören Sie, wollen wir über die Stadtgleise zurücklaufen? Nach so einem wilden Konzert wäre das nett. Hier gibt es Raumanzüge, die wir benutzen können. Bei einem Spaziergang kann man alles besser verarbeiten.«
»Aber reicht dafür die Zeit?«
»O ja. Wir werden ein gutes Stück vor der Stadt bei dem Bahnsteig sein. Das habe ich schon öfter gemacht.«
Ihr war wohl nicht aufgefallen, wie unbehaglich er sich draußen auf dem Merkur fühlte. Er konnte schlecht nein sagen. Obwohl alle anderen aus dem Publikum und auch die Musiker die Trambahn nahmen. In der sie zweifellos das interessante Gespräch über das Konzert, über Beethoven-Transpositionen und derlei mehr fortsetzten.
Aber nein. Ein Spaziergang auf einer verbrannten Welt. Nachdem sie die Integrität ihrer geliehenen Raumanzüge überprüft hatten, verließen sie den Saal durch die Luftschleuse und gingen nordwärts zu den Schienen Terminators.
Der Beethoven-Krater hatte die glatteste Oberfläche, die er auf dem Merkur bisher gesehen hatte. Der kleine Bello im Osten befand sich unterhalb des Horizonts. Nervös wanderte Wahram neben Swan her. Ihre Helmscheinwerfer erhellten lang gestreckte Ovale schwarzer Wüste. Feine Staubwolken stiegen von ihren Stiefelspitzen empor und sanken hinter ihnen wieder auf den ausgedörrten Boden ab. Ihre Stiefelabdrücke würden eine Milliarde Jahre Bestand haben, aber sie folgten ohnehin einem Pfad von Fußstapfen, sodass der Schaden an der Planetenoberfläche längst angerichtet war. Zu den Seiten des staubigen Pfads fing das knorrige, körnige Gestein den Schein ihrer Lampen ein und reflektierte ihn in Form winziger Diamantlichter, die wie Reif aussahen, obwohl es sich bei ihnen in Wirklichkeit um winzige Kristallflächen handeln musste. Sie kamen an einem Felsen vorbei, auf den ein Kokopelli gemalt war: Anstelle einer Flöte schien die Gestalt ein Teleskop zu haben, das sie gen Osten gerichtet hielt. Eine Weile pfiff Wahram halblaut und in halbem Tempo das Thema der Großen Fuge.
»Pfeifst du?«, fragte Swan anscheinend überrascht.
»Sieht ganz danach aus.«
»Ich auch!«
Wahram, der sich nicht als jemanden sah, der für andere pfiff, verstummte.
Sie erreichten eine kleine Anhöhe, und vor ihnen lagen die Schienen Terminators. Die Stadt war noch nicht in Sicht: Höchstwahrscheinlich befand sie sich noch immer jenseits des östlichen Horizonts. Der nächstgelegene Schienenstrang versperrte größtenteils die Sicht auf diejenigen, die daneben verliefen. Wahram hatte gehört, dass die Schienen aus einer ganz bestimmten Art von gehärtetem Stahl bestanden, und im Sternenlicht glänzten sie mattsilbern. Ihre Unterseite befand sich ein paar Meter über dem Boden und wurde im Abstand von etwa fünfzig Metern von dicken Pfeilern gehalten. Zu Wahrams Erleichterung sah er nordwestlich von ihnen neben der äußersten Schiene einen Bahnsteig. Die Tram vom Konzert war bereits eingetroffen.
Das erste Sonnenlicht fiel auf die höchste Stelle der Westwand von Beethoven. Die gesamte Landschaft wurde von dieser einen glatten Felsspitze erhellt. Die Morgendämmerung nahte heran, langsam, aber unaufhaltsam. Sobald sie über den östlichen Horizont wanderte, würde Terminator einen grandiosen Anblick bieten. Vielleicht war das bereits die Kuppelspitze, die dort als halbmondförmige Linie aus Licht zum Vorschein kam.
Dort, wo eben noch der Bahnsteig gewesen war, erstrahlten plötzlich die Schienen in einem blendenden Lichtblitz. Ein blutrotes Nachbild teilte Wahrams Sicht in zwei Hälften: Als es pulsierend zu einem weniger grellen vertikalen Fleck schrumpfte, begannen um sie herum Felsbrocken einzuschlagen. Staubwolken wirbelten auf wie verspritztes Wasser. Sie schrien beide auf, allerdings hatte Wahram keine Ahnung, was sie sagten. Dann brüllte Swan: »Runter, pass auf deinen Kopf auf!«, und zerrte an seinem Arm. Wahram kniete sich neben ihr hin und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie schien zu versuchen, ihm die Arme über den Helm zu legen, während sie den ihren an seine Brust drückte. Als er über sie hinwegblickte, sah er, dass die Schienen dort, wo sich der Bahnsteig befunden hatte, in einer großen Staubwolke verschwunden waren, die bis zum Sonnenlicht reichte. Der gelb angestrahlte Teil der Wolke erhellte die umliegende Landschaft wie ein Leuchtfeuer. Der Boden am Fuß der Wolke glühte aus sich heraus: Anscheinend handelte es sich um einen See rauchender Lava.