Das größte Zimmer enthielt eine Ansammlung von Sofas und niedrigen Tischen sowie den langen Tresen einer Gemeinschaftsküche. Swan stellte sich und Wahram den drei Sonnenläufern vor, deren Alter und Geschlecht sich nicht bestimmen ließ. Sie nickten höflich, nannten aber selbst nicht ihre Namen. »Wie geht es deinem Arm?«, fragte Swan den Verletzten.
»Er ist gebrochen«, sagte die angesprochene Person schlicht und streckte ihn ein wenig aus. »Ein sauberer Treffer. Ich schätze, dass es ein kleiner Stein war, der bei dem Einschlag hochgeschleudert wurde und einfach nur herabgefallen ist.«
Wahram gewann nun doch den Eindruck eines sehr jungen Menschen. »Wir können versuchen, ihn zu richten, und ihn dann auf jeden Fall mit irgendetwas schienen, egal, wie gerade er ist.«
»Hat jemand von euch den Meteoreinschlag gesehen?«, fragte Swan.
Alle drei schüttelten den Kopf. Sie waren alle jung, dachte Wahram. Das war die Sorte Menschen, die kurz vor Sonnenaufgang auf dem Merkur herumlief und sich mit Sonnenvisionen das Hirn verbrannte. Doch anscheinend war auch Swan eine von ihnen. Also handelte es sich wohl eher um die im Geiste Jungen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Wir können dem Tunnel nach Westen folgen, bis wir zum nächsten Raumhafen auf der Nachtseite gelangen«, sagte einer von ihnen.
»Glaubst du, dass der Tunnel unter der Einschlagstelle noch passierbar ist?«, fragte Swan.
»Ach«, sagte der oder die eine. »Daran habe ich nicht gedacht.«
»Könnte schon sein«, sagte die Person mit dem gebrochenen Unterarm. Die dritte war damit beschäftigt, die Wandschränke durchzuschauen. »Man weiß nie.«
»Ich bezweifle es«, sagte Swan. »Aber wir können wohl mal nachsehen. Es ist nur etwa fünfzehn Klicks weit weg.«
Nur fünfzehn! Doch Wahram hielt den Mund. Sie standen da und schauten einander an.
»Tja, scheiß drauf«, sagte Swan. »Gehen wir nachsehen. Ich will hier nicht bloß rumsitzen.«
Wahram unterdrückte ein Seufzen. Schließlich hatten sie ja keine große Wahl. Und wenn sie nach Westen durchkamen und sich beeilten, konnten sie die Nacht einholen und hoffentlich auch den Raumhafen erreichen, zu dem die Leute aus Terminator gefahren waren.
Also gingen sie zu einer Tür am westlichen Ende des Zimmers, die auf einen Gang führte, der schwach von einer Reihe in die Decke eingelassener Lampen erleuchtet wurde. Die Wände des Tunnels bestanden aus unbearbeitetem Felsgestein, das hier und dort Risse aufwies. An anderen Stellen waren Bohrspuren zu sehen, die zu ihrer Linken schräg nach oben und zur Rechten nach unten wiesen. Sie wanderten mit einem ordentlichen Tempo westwärts. Der Sonnenläufer mit dem gebrochenen Arm war anscheinend der Schnellste von ihnen, obwohl einer der anderen beiden sich dicht bei der verletzten Person hielt. Niemand sprach ein Wort. Eine Stunde verging, und nach einer kurzen Ruhepause auf einigen würfelförmigen Steinklötzen setzten sie ihren Weg eine weitere Stunde lang fort. »Hat deine Pauline eine Aufnahme von dem Meteortreffer gemacht?«, fragte Wahram Swan, nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. Der Tunnel war breit genug, damit drei bis vier Menschen nebeneinander gehen konnten, wie die Sonnenläufer vor ihnen es auch taten.
»Ich habe nachgesehen, aber es ist nur ein horizontaler Blitz. Nur ein paar Millisekunden schnell und heiß herabstürzenden Lichts vor der Explosion nach oben und zu den Seiten. Aber warum heiß? Es gibt keine Atmosphäre, um etwas aufzuheizen, das kann es also nicht sein. Es sieht ein bisschen aus, als wäre es von, ich weiß nicht, irgendwo anders gekommen. Aus irgendeinem anderen Universum.«
»Klingt so, als dürften wir noch mit einer anderen Erklärung rechnen.« Wahram konnte sich die Entgegnung nicht verkneifen.
»Tja, dann erklär du es«, sagte sie in demselben bissigen Tonfall, in dem sie normalerweise mit ihrem Qube sprach.
»Das kann ich nicht«, erwiderte Wahram ruhig.
Schweigend gingen sie weiter. Irgendwann liefen sie vermutlich auch unter der Stadt entlang. Über ihnen brannte zweifellos Terminator im Licht des helllichten Tages.
Dann schien der Tunnel vor ihnen zu Ende zu sein. Sie hatten alle ihre Helme wieder aufgesetzt, da sie sich so am bequemsten tragen ließen, und jetzt leuchteten sie mit ihren Helmlampen in die Dunkelheit. Der Tunnel vor ihnen war bis zur Decke mit Steinen und Geröll angefüllt. Es war kalt hier, und unvermittelt sagte Swan: »Wir sollten lieber unsere Helme dichtmachen.« Ihr Visier fuhr herab. Wahram tat es ihr nach.
Sie standen da und schauten die Barriere an.
»Also gut«, sagte Swan grimmig, »nach Westen können wir nicht. Dann müssen wir wohl nach Osten.«
»Aber wie lange wird das dauern?«, fragte Wahram.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn wir hier herumsitzen, dauert es achtundachtzig Tage bis zum Sonnenuntergang. Wenn wir gehen, geht es schneller.«
»Wir sollen einmal halb um den Merkur laufen?«
»Nein, nicht die ganze Strecke, weil der Planet sich weiterdreht, während wir unterwegs sind. Darum geht es ja. Ich meine, was sollen wir sonst machen? Ich sitze hier nicht drei Monate lang rum!« Er sah, dass ihr gleich die Tränen kommen würden.
»Wie weit ist das noch mal?«, fragte er und dachte dabei halb um den Titan. Sein Magen krampfte sich zusammen.
»Etwa zweitausend Kilometer. Aber wenn wir, sagen wir, täglich dreißig Kilometer nach Osten zurücklegen, dann verkürzt sich die Wartezeit auf um die vierzig Tage. Wir können sie also halbieren. Das scheint mir die Sache wert zu sein. Und wir müssen nicht ununterbrochen weitergehen. Ich meine, es ist nicht wie beim Sonnenlaufen. Wir laufen unser Tagessoll, essen, schlafen nachts und laufen dann wieder. Wir folgen einer täglichen Routine. Wenn wir von vierundzwanzig Stunden jeweils zwölf Stunden wandern, wäre das zwar eine Menge, aber damit würden wir sogar noch mehr Tage einsparen. Was ist, Pauline?«
»Kannst du Paulines Stimme wieder laut stellen?«, bat Wahram.
»Im Moment möchte ich das nicht. Sie sagt, dass wir die Zeit, die wir hier unten verbringen, um etwa 45 Tage verringern können, wenn wir zwölf Stunden am Tag laufen. Mir genügt das.«
»Tja«, sagte Wahram, »das ist ein gutes Stück Weg.«
»Ich weiß, aber was möchtest du denn machen? Doppelt so lange hier herumsitzen?«
»Nein«, antwortete er nachdenklich. »Wohl nicht.«
Obwohl es eigentlich keine so unglaublich lange Zeit war. Mal wieder Proust oder O’Brian durchlesen, oder ein paarmal den Ring-Zyklus; sein kleines Armpad war gut bestückt. Aber so, wie sie dastand und ihn ansah, wollte er solche Überlegungen lieber nicht aussprechen.
»Ich schalte Pauline laut«, sagte sie, als machte sie ihm als Gegenleistung für seine Zustimmung ein Zugeständnis.
»Solvitur ambulando«, sagte Pauline. »Latein für: ›Die Lösung ist ein Spaziergang‹. Diogenes von Sinope.«
»Auf diese Art beweist man, dass Bewegung etwas Reales ist«, mutmaßte Wahram.
»Ja.«
Wahram seufzte. »Das habe ich ohnehin nicht bezweifelt.«
Als sie wieder die Station erreichten, bei der sie aufgebrochen waren, machten sie eine Bestandsaufnahme. Die drei Sonnenläufer hatten absolut nichts dagegen, sechs oder sieben Wochen lang zu laufen; höchstwahrscheinlich war das ihre normale Lebensweise. Ihre Namen waren Tron, Tor und Nar. Ihr Geschlecht blieb für Wahram unbestimmbar, und sie kamen ihm sehr jung und einfältig vor. Sie lebten einzig und allein dafür, auf dem Merkur umherzuwandern; über andere Themen wussten sie anscheinend nichts zu sagen, oder vielleicht redeten sie nicht viel mit Fremden. Ihr Tun kam ihm kindisch vor, oder extrem provinziell. Natürlich gab es ganze Terrarien voll mit solchen Leuten, bislang hatte er die Merkurianer als höchst kultivierte Menschen kennengelernt, bestens bewandert in Geschichte, Kunst und Kulturgeschichte. Nun wurde ihm klar, dass das nicht uneingeschränkt zutraf. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass es sich bei den Sonnenanbetern um Anhänger der verschiedenen frühen Sonnenreligionen des alten Ägypten, Persiens und der Inka handeln würde – aber nein. Sie mochten einfach nur die Sonne.