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»Das wusste ich auch nicht.«

»Man kann also seine eigenen Stammzellen nehmen und die DNA von Lerchengesangs-Hirnzentren einsetzen, und dann kann man sie durch die Nase ins Gehirn einführen, wo sie einen kleinen Zellhaufen im limbischen System bilden. Wenn man dann pfeift, verbindet dieser Haufen sich mit dem bereits bestehenden musikalischen Netzwerk. Das sind alles sehr alte Teile. Die sind ohnehin schon fast wie Vogel-Gehirnteile. Die neuen Bereiche werden also eingestöpselt, und los geht’s.«

»Das hast du gemacht?«

»Ja.«

»Wie hat es sich angefühlt?«

Zur Antwort pfiff sie. Ein weiches Glissando ging ins nächste über: helles Vogelgezwitscher, hier bei ihnen im Tunnel.

»Erstaunlich«, sagte Wahram, »ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist. Eigentlich solltest du hier pfeifen und nicht ich.«

»Es stört dich nicht?«

»Im Gegenteil.«

Also pfiff sie, während sie weitergingen, und zwar manchmal die ganze Stunde zwischen ihren Pausen. Ihr fröhliches Gezwitscher wechselte zwischen allerlei Phasen und Phrasen, die Wahram so vielfältig vorkamen, dass es sich um den Gesang von mehr als zwei Vogelarten handeln musste. Aber er war sich nicht sicher, und ihm kam der Gedanke, dass sie durch ihren Körper stimmlich ebenso eingeschränkt war wie jeder Vogel auch. Vielleicht handelte es sich also bloß um Varianten der Lieder, die ein echter Singvogel sang. Prachtvolle Musik! Manchmal klang sie ein bisschen nach Debussy, und natürlich waren da auch Messiaens explizite Vogelimitationen. Doch Swans Pfeifen war ausgefallener, wiederholte sich stärker, mit unzähligen Variationen der Motive. Oft wiederholte sie eindringliche Ostinato-Triller, die ihn manchmal nicht mehr losließen und geradezu verrückt machten.

Nachdem sie aufgehört hatte, konnte er sich immer noch einige ihrer Melodien in Erinnerung rufen. Wale hatten natürlich auch Lieder, aber mit Sicherheit waren Vögel die ersten Musiker gewesen. Es sei denn, die Dinosaurier hatten auch schon musiziert. Er meinte sich zu erinnern, dass Hadrosaurier-Schädel tiefe Höhlungen hatten, die nur dem Zweck dienen konnten, Laute zu erzeugen. Es war interessant, sich vorzustellen, was für Geräusche sie wohl von sich gegeben haben mochten. Er summte sogar ein wenig, um auszuprobieren, wie es sich in seiner eigenen tiefen, fassförmigen Brust anfühlte.

»War das jetzt der Vogel oder du?«, fragte er, als sie eine Pause einlegte.

»Wir sind ein und dieselbe«, antwortete sie.

Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Mozarts Star in einem Käfig hat einmal eine Phrase abgewandelt, die Mozart geschrieben hat. Der Vogel hat sie gesungen, nachdem Mozart sie auf dem Klavier gespielt hatte, aber dabei alle Kreuze in Bs umgewandelt. Mozart hat das am Rande des Notenblatts beschrieben. ›Es war wunderschön!‹, schrieb er. Als der Vogel starb, sang er bei seiner Beerdigung und las ihm ein Gedicht vor. Und seine nächste Komposition, die der Verleger Ein musikalischer Spaß nannte, war im Star-Stil.«

»Hübsch«, sagte Wahram. »Es stimmt schon, dass Vögel seit jeher intelligent wirken.«

»Tauben nicht«, erwiderte sie. Doch dann fügte sie in düstererem Tonfall hinzu: »Man kann entweder über hochspezialisierte Intelligenz verfügen oder über eine hohe allgemeine Intelligenz, aber nicht über beides.«

Wahram wusste nicht, was er dazu sagen sollte; der Gedanke hatte sie mit einem Mal missmutig werden lassen. »Tja. Wir sollten zusammen pfeifen.«

»Damit wir beides haben?«

»Was?«

»Vergiss es. In Ordnung.«

Also fing er wieder mit der Eroica an, und diesmal pfiff sie mit und ergänzte seine Melodien mit ihrem Vogelgesang um einen Kontrapunkt oder um eine Oberstimme. Ihre Teile passten sich wie interne Kadenzen oder Jazzimprovisationen an seine an, und in Beethovens stärker heroischen Momenten, die ziemlich häufig vorkamen, steigerten ihre Beiträge sich zu rasend schnellen Improvisationen, als hätte Beethovens Kühnheit bei dem Vogel in ihrem Innern einen Anfall ausgelöst.

Gemeinsam pfiffen sie einige höchst aufwühlende Duette, womit sie die Zeit jedenfalls deutlich anders rumbrachten als bisher. Man brauchte das Geschenk der Zeit, dachte er, um derartige Freuden zu erkunden. Er konnte alle ihm bekannten Stücke Beethovens durchgehen; und danach alle vier Symphonien von Brahms, so edel und von Herzen; und die letzten drei Symphonien von Tschaikowsky. All die großartigen Momente von der Tonspur seiner ach so romantischen Jugend. Swan war derweil für alles zu haben, und mit ihren biologischen Erweiterungen fügte sie den Melodien eine wilde, verschnörkelte oder avantgardistische Note hinzu. Oft verblüfften ihre Beiträge ihn. Die durchdringenden Klänge trugen weit durch den Tunnel, und manchmal wurden die Sonnenläufer langsamer und gingen unmittelbar vor ihnen, wippten zur Musik und pfiffen sogar selbst, nicht besonders gekonnt, aber mit Hingabe. Das Finale von Beethovens Siebter kam bei ihnen als Wanderlied besonders gut an, und wenn sie sich nach einer Pause wieder aufmachten, baten die Sonnenläufer oft darum, den Stoß ins Horn zu hören, mit dem Tschaikowskys Vierte begann, und anschließend das erste Thema, das so erfüllt war von dem Gefühl eines dunklen und großen Schicksals, das all ihre Schritte lenkte.

Am Ende einer ihrer gemeinsamen Interpretationen von Beethovens Neunter schüttelten sie alle verwundert die Köpfe, und Nar drehte sich um und sagte: »Also wirklich, ihr beiden seid gute Pfeifer! Was für Melodien!«

»Tja«, sagte Wahram. »Die sind von Beethoven.«

»Ach so. Ich dachte, man nennt das Pfeifen.«

»Wir dachten, dass ihr euch das ausdenkt«, fügte Tron hinzu. »Wir waren echt beeindruckt.«

Später, als die drei Jugendlichen weiter vorne waren, fragte Wahram: »Sind alle Sonnenläufer so?«

»Nein!«, rief Swan verärgert. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich selbst Sonnenläuferin bin.«

Er wollte nicht, dass sie verärgert war. »Sag mal, hast du dir noch andere interessante Sachen ins Gehirn einsetzen lassen?«

»Allerdings.« Sie klang noch immer sauer. »Es gibt noch eine ältere KI, aus meiner Kinderzeit, die man mir in den Corpus Callosum eingesetzt hat, um mir gegen die Krampfanfälle zu helfen, die ich damals hatte. Und ein Stück von einem Geliebten – wir wollten einige unserer sexuellen Reaktionen gemeinsam erleben und sehen, wohin uns das führt. Wie sich herausstellte, hat es nirgendwohin geführt, aber dieses Stückchen von ihm ist wahrscheinlich immer noch da drin. Und dann gibt es auch noch Zeug, über das ich nicht reden möchte.«

»Liebe Güte. Ist das verwirrend?«

»Überhaupt nicht.« Ihr Tonfall wurde immer grimmiger. »Hast du etwa nichts in dir drin?«

»In gewisser Weise schon. Das hat wohl jeder«, beschwichtigte er sie, obwohl er nur selten von so vielen Gehirneingriffen an einer Person gehört hatte wie bei ihr. »Ich nehme etwas Vasopressin und etwas Oxytocin, wie empfohlen.«

»Die werden beide aus Vasotocin gewonnen«, stellte sie fest. »Die drei Stoffe unterscheiden sich nur in jeweils einer Aminosäure. Deshalb nehme ich Vasotocin. Es ist ein sehr alter Stoff, so alt, dass er sogar das Sexualverhalten von Fröschen steuert.«

»Liebe Güte.«

»Nein, es ist genau das, was du brauchst.«

»Ich weiß nicht. Mir geht es mit dem Oxytocin und dem Vasopressin bestens.«

»Oxytocin ist das soziale Gedächtnis«, sagte sie. »Ohne nimmt man andere Menschen überhaupt nicht wahr. Ich brauche mehr davon. Und wohl auch mehr Vasopressin.«

»Das Monogamie-Hormon«, sagte Wahram.

»Das Hormon für männliche Monogamie. Aber nur drei Prozent aller Säugetiere sind monogam. Ich glaube, sogar Vögel sind da besser.«

»Schwäne«, schlug Wahram vor.

»Ja. Aber monogam bin ich nicht.«

»Nicht?«

»Nein. Außer dass ich den Endorphinen die Treue halte.«

Stirnrunzelnd sagte er sich, dass das wohl ein Scherz sein sollte, und versuchte, ihn aufzugreifen. »Ist das nicht so ähnlich, wie wenn man einen Hund hat?«