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»Ich mag Hunde. Hunde sind Wölfe.«

»Aber Wölfe sind nicht monogam.«

»Nein. Aber Endorphine sind es.«

Wahram seufzte. Er hatte das Gefühl, nicht mehr mitzukommen, aber vielleicht hatte auch sie den Faden verloren. »Es ist die Berührung von etwas Geliebtem, die die Endorphine anregt«, sagte er und beließ es dabei. Das Ende der Mondscheinsonate konnte man nicht pfeifen.

In jener Nacht, als sie auf ihren schmalen Aerogel-Matratzen unter ihren dünnen Decken im Tunnel schliefen, erwachte er und stellte fest, dass Swan umgezogen war und sich nun beim Schlafen mit ihrem Rücken an seinen drückte. Der daraus resultierende Oxytocin-Fluss tat seinen schmerzenden Hüften gut; das war eine Interpretationsmöglichkeit. Natürlich war der Drang, mit jemandem zusammen zu schlafen, die Freude daran, mit jemandem zusammen zu schlafen, nicht direkt mit Sex gleichzusetzen. Was ihn beruhigte. Ein Stück weiter hatten sich die drei jungen Wilden wie Kätzchen ineinandergekuschelt. Es war warm, oft zu warm im Tunnel, aber dicht am Boden wurde es kalt. Er hörte Swan ganz leise schnurren. Da waren wohl Katzengene im Spiel – davon hatte er schon gehört. Angeblich fühlte es sich gut an, ganz ähnlich wie Summen. Man empfand Vergnügen, schnurrte, fühlte sich besser; eine positive Feedback-Schleife, die erneut zu Vergnügen führte, das sich mit jedem Atemzug steigerte und klang wie das, was er bei ihr hörte. Eine andere Art von Musik. Gleichzeitig wusste er, dass kranke Katzen manchmal schnurrten, um sich für einen Moment Erleichterung zu verschaffen, oder sogar in der Hoffnung, zu gesunden, indem sie die Schleife in Gang setzten. Er hatte mit einer Katze zusammengewohnt, die gegen Ende ihres Lebens genau das getan hatte. Eine fünfzig Jahre alte Katze ist ein beeindruckendes Geschöpf. Der Verlust jenes uralten Eunuchen war eine von Wahrams ersten Verlusterfahrungen gewesen, weshalb er dessen Schnurren gegen Ende in besonders schmerzhafter Erinnerung hatte, der Klang eines Gefühls, das zu vielschichtig war, als dass er es in Worte hätte fassen können. Ein guter Freund von ihm war schnurrend gestorben, und nun ließ ihn Swans Schnurren besorgt erschauern.

Nach dem Schlafen ging es weiter den Tunnel entlang, verspannt und benommen. Die Morgenstunde. Er pfiff den langsamen Satz der Eroica, Beethovens Trauermarsch für sein Gehör, den er geschrieben hatte, während etwas in ihm gestorben war. »›Wir leben eine Stunde, und es ist immer die gleiche‹«, zitierte er. Dann folgte der langsame Satz des ersten der späten Quartette, Opus 127, Variationen eines Themas, so reichhaltig; ebenso majestätisch wie der Trauermarsch, aber hoffnungsvoller, verliebter in die Schönheit. Und dann folgte der dritte Satz, der so kraftvoll und fröhlich war, dass es auch ein vierter hätte sein können.

Swan bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Zum Teufel mit dir«, sagte sie. »Das macht dir doch Spaß.«

Sein basskrächzendes Gelächter fühlte sich gut in der Brust an, ein bisschen wie bei einem Hadrosaurier. »›Die Gefahr war wie Wein für ihn‹«, knurrte er.

»Woher kommt das?«

»Aus dem Oxford English Dictionary. Da habe ich es zumindest gesehen.«

»Du magst Zitate.«

»›Wir haben einen weiten Weg hinter uns und einen weiten Weg vor uns. Irgendwo dazwischen sind wir.‹«

»Na komm, woher ist das jetzt? Aus einem Glückskeks?«

»Ich glaube, es ist von Reinhold Messner.«

Er musste zugeben, dass es ihm wirklich irgendwie Spaß machte. Nur noch um die fünfundzwanzig Tage; das war keine so große Zahl. Das konnte er durchhalten. Es war das iterativste Pseudoiterativ, das er jemals erleben würde, und damit interessant, als eine Art Grenzfall dessen, was er sich zu wünschen meinte. Eine Übersteigerung ins Absurde. Und der Tunnel war eigentlich nicht so sehr ein Fall von Reizentzug als einer von Reizüberflutung, wenn auch nur in Form sehr weniger Elemente: die Tunnelwände, die Lichter, die vor und hinter ihnen an der Decke entlangliefen, so weit das Auge reichte.

Doch Swan machte das Ganze kein bisschen Spaß. Dieser spezielle Tag schien sogar der bislang schlimmste zu sein. Sie wurde langsamer, was er noch nie zuvor erlebt hatte, und zwar so sehr, dass er selbst seinen Schritt verlangsamen musste, damit er sie nicht abhängte.

»Geht es dir gut?«, fragte er, nachdem er gewartet hatte, bis sie ihn einholte.

»Nein. Mit geht es scheiße. Wahrscheinlich fängt es jetzt an. Spürst du etwas?«

Tatsächlich fühlten Wahrams Hüften, Knie und Füße sich wund an. Aber seinen Fußknöcheln ging es gut, und wenn er erst einmal unterwegs war, ließen die Beschwerden nach. »Ich habe Schmerzen«, gab er zu.

»Ich mache mir Sorgen wegen der letzten Sonneneruption, die wir gesehen haben. In dem Moment, in dem man die Dinger sieht, hat man schon Strahlung abbekommen, die früher ausgesandt wurde. Ich befürchte, dass wir gekocht worden sind. Mir geht’s dreckig.«

»Ich habe bloß Muskelkater. Aber du hast mir beim Aufzug auch Deckung gegeben.«

»Wahrscheinlich hat es uns verschieden stark erwischt. Ich hoffe es. Fragen wir die jungen Wilden, wie es ihnen geht.«

Das taten sie beim nächsten Halt. Ihren Mienen nach hatten die Sonnenläufer sich schon Sorgen gemacht, weil Swan und Wahram so lange gebraucht hatten. Tron fragte: »Wie läuft’s?«

»Ich fühle mich krank«, sagte Swan. »Wie geht es euch dreien?«

Sie warfen einander Blicke zu. »Bestens«, sagte Tron.

»Keine Übelkeit, kein Durchfall? Keine Kopf- oder Muskelschmerzen? Kein Haarausfall?«

Die drei Sonnenläufer schauten einander achselzuckend an. Sie waren früher mit dem Aufzug heruntergefahren.

»Ich habe keinen großen Appetit«, sagte Tron, »aber das Essen ist auch nicht besonders.«

»Mein Arm tut mir immer noch weh«, räumte Nar ein.

Swan warf ihnen wütende Blicke zu. Sie waren Sonnenläufer, jung und kräftig; sie taten, was sie sonst auch taten, sah man davon ab, dass sie diesmal unter der Erde waren und sich in entgegengesetzter Richtung bewegten. Dann blickte sie zu Wahram. »Was ist mit dir?«

Wahram sagte: »Ich habe Schmerzen. Ich kann nicht viel schneller gehen, als ich es ohnehin schon tue, und auch nicht viel länger, sonst geht bei mir was kaputt.«

Swan nickte. »Bei mir ist es genauso. Ich muss vielleicht sogar langsamer machen. Es geht mir schlecht. Deshalb habe ich überlegt, ob ihr drei nicht vorauseilen solltet, und wenn ihr die Abenddämmerung erreicht oder auf Menschen trefft, könnt ihr ihnen von uns erzählen.«

Die Sonnenläufer nickten. »Woher wissen wir, dass wir da sind?«, fragte Tron.

»Wenn ihr in zwei Wochen das nächste Mal eine Station erreicht, könnt ihr mit einem Aufzug hochfahren und nachsehen.«

»Alles klar.« Tron schaute zu Tor und Nar, und alle drei nickten. »Wir gehen Hilfe holen.«

»Genau. Aber geht nicht so schnell, dass ihr Schaden nehmt.«

Ab diesem Zeitpunkt waren Wahram und Swan nur noch zu zweit unterwegs. Eine Stunde laufen, eine halbe Stunde sitzen, neunmal hintereinander; dann eine ausgedehnte Mahlzeit und schlafen. Eine Stunde war eine lange Zeit. Neun davon kamen ihnen mit ihren Pausen zusammengenommen vor wie zwei Wochen. Dann und wann pfiffen sie, aber Swan ging es nicht besonders gut, und Wahram pfiff nicht gerne alleine, wenn sie ihn nicht darum bat. Manchmal ließ sie sich ein wenig zurückfallen, um sich zu erleichtern: »Ich hab Durchfall«, sagte sie einmal. »Ich muss meinen Anzug ausleeren.« Später sagte sie bloß noch: »Einen Moment mal«, und dann, nach fünf oder zehn Minuten, schloss sie wieder zu ihm auf, und es ging weiter. Sie wirkte ausgetrocknet. Außerdem wurde sie launisch und attackierte Pauline oft heftig, und manchmal auch Wahram. Sie war streitlustig, widerborstig, unleidig. Immer wieder war Wahram über ihr unfaires Verhalten, über die sinnlose Missstimmung, die sie aus nichtigen Anlässen verbreitete, verärgert. Dann wanderte er wortlos einher und pfiff halblaut düstere kleine Bruchstücke von Melodien. In diesen Momenten bemühte er sich, an eine Lektion zu denken, die er im Hort gelernt hatte, nämlich dass man sich bei Personen mit Stimmungsschwankungen die Tiefpunkte einfach wegdenken muss, um irgendwie zurechtzukommen. Sein Hort hatte aus sechs Personen bestanden, und eine davon hatte unter fast schon bipolaren Störungen gelitten. Letztlich war das Wahrams Meinung nach die Ursache dafür gewesen, dass die Gruppe sich mehr oder weniger aufgelöst hatte. Er selbst war besonders wenig in der Lage gewesen, jenen Menschen in seiner Gesamtamplitude wahrzunehmen. Zwischen sechs Leuten gab es insgesamt 30 Beziehungen, und die hexadezimalen Weisheiten besagten, dass alle diese Beziehungen bis auf höchstens ein oder zwei gut sein mussten, damit ein Hort bestehen konnte. Das war bei ihnen nicht einmal annähernd der Fall gewesen, aber später war Wahram klar geworden, dass die launische Person in ihren besseren Phasen diejenige war, die er am meisten vermisste. Daran musste er sich stets erinnern und daraus lernen.