Dann vergingen einmal zehn Minuten, in denen Swan weiter hinten im Tunnel verschwunden blieb, ohne wieder aufzutauchen; Wahram meinte, ein Stöhnen zu hören.
Also ging er zurück und fand sie lang hingestreckt auf dem Boden, kaum bei Bewusstsein, den Raumanzug bis zu den Fußknöcheln heruntergelassen. Offenbar war sie gerade dabei gewesen, sich zu entleeren. Und sie stöhnte tatsächlich.
»O nein!«, sagte er und kauerte sich neben ihr hin. Sie hatte immer noch ihr langärmeliges Hemd an, aber darunter war ihre Haut an der Seite, mit der sie auf dem Boden gelegen hatte, blau vor Kälte. »Swan, kannst du mich hören? Bist du verletzt?«
Er hielt ihren Kopf hoch. Ihre Augen waren leicht wässrig. »Verdammt«, sagte er. Er wollte ihren Raumanzug nicht über den Schlamassel zwischen ihren Beinen hochziehen. »Warte«, sagte er, »ich mache dich sauber.« Wie so ziemlich jeder hatte er genügend Windeln in seinem Leben gewechselt, sowohl bei Kindern als auch bei Alten, und er wusste, was er zu tun hatte. In einer Tasche seines Raumanzugs hatte er Toilettenpapier. Er selbst hatte sich in letzter Zeit einige Male schnellstens entleeren müssen, was ihm nun mit einem Mal größere Sorgen bereitete. Und außerdem hatte er Wasser und dank seines Anzugs sogar einige folienverpackte Feuchttücher. Die holte er also hervor, hob Swans Beine an und säuberte sie. Obwohl er den Blick abgewandt hielt, war nicht zu übersehen, dass sich inmitten ihres Schamhaars ein kleiner Penis mit Hodensack befand, etwa dort, wo sonst wohl ihre Klitoris gewesen wäre, vielleicht auch etwas höher. Ein Gynandromorph; das überraschte ihn nicht. Er säuberte sie möglichst schnell und sorgfältig, legte dann ihre Arme über seine Schultern, hob sie an – sie war schwerer, als er erwartet hatte – und zog ihren Raumanzug hoch. Sobald er die obere Hälfte über ihre Hüfte bekommen hatte, setzte er sie wieder ab. Er steckte ihre Arme in die Ärmel. Glücklicherweise halfen Raumanzug-KIs einem wie Butler dabei, sie anzulegen. Er musterte ihren kleinen, auf dem Boden liegenden Rucksack. Der musste mit. Er beschloss, ihn ihr wieder aufzusetzen. Nachdem er all das geschafft hatte, hob er sie hoch und trug sie vor sich auf den Armen. Da ihr Kopf weiter nach hinten runterbaumelte, als es ihm lieb war, hielt er an.
»Swan, hörst du mich?«
Sie stöhnte und blinzelte. Er bekam einen Arm in ihren Nacken und griff nach. »Was?«, sagte sie.
»Du hast das Bewusstsein verloren«, erklärte er. »Während du Durchfall hattest.«
»Oh«, sagte sie. Dann zog sie ihren Kopf hoch und legte die Arme um seinen Hals. Er ging wieder los. So schwer war sie nicht, jetzt, wo sie ihm dabei half, sie festzuhalten. »Ich habe schon gemerkt, dass ein Kreislaufkollaps im Anmarsch ist«, sagte sie. »Bekomme ich wieder meine Tage?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Fühlt sich so an, ich habe Krämpfe. Aber wahrscheinlich habe ich nicht genug Körperfett dafür.«
»Vielleicht nicht.«
Mit einem Mal zuckte sie in seinen Armen und löste sich von ihm, um ihm ins Gesicht zu schauen. »Liebe Güte. He, hör mal – manchen Leuten ist es unangenehm, mich anzufassen. Ich muss dir das sagen. Du weißt, dass manche Menschen etwas von Enceladus-Lebensformen einnehmen?«
»Einnehmen?«
»Ja. Ein Aufguss einer Bakterien-Suite. Sie essen gewisse Enceladaner, das soll gut für einen sein. Ich habe es auch gemacht. Vor langer Zeit. Manchen Leuten gefällt die Vorstellung halt nicht. Sie wollen nicht mal in Kontakt mit jemandem geraten, der das mal gemacht hat.«
Wahram schluckte beunruhigt und verspürte einen Anflug von Übelkeit. Kam das von den außerirdischen Mikroben oder nur von dem Gedanken daran? Es ließ sich nicht feststellen. Was geschehen war, war geschehen, er konnte es nicht ändern. »Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte er, »dann gilt die enceladanische Suite als nicht besonders ansteckend?«
»Da hast du recht. Aber sie wird durch Körperflüssigkeiten übertragen. Man muss sie ins Blut bekommen, glaube ich. Obwohl ich meine Dosis getrunken habe. Vielleicht reicht es, wenn es in den Verdauungstrakt kommt. Stimmt. Deshalb zerbrechen sich die Leute so sehr den Kopf darüber. Also …«
»Ich werde schon damit fertig«, sagte Wahram. Er trug sie eine Weile, in dem Bewusstsein, dass sie seine Miene genau musterte. Wenn er danach ging, was er beim Rasieren im Spiegel sah, gab es dort wahrscheinlich nicht viel zu entdecken.
Ohne es zu wollen, sagte er: »Du hast einige seltsame Dinge mit dir veranstaltet.«
Sie verzog das Gesicht und schaute weg. »Andere Leute moralisch zu verurteilen ist eigentlich nie besonders höflich, findest du nicht?«
»Ja, da hast du natürlich recht. Wobei mir auffällt, dass wir genau das die ganze Zeit tun. Aber ich meinte auch nur, dass es seltsam ist. Das war gar nicht verurteilend gemeint.«
»Ja, klar. Es ist ja so gut, seltsam zu sein.«
»Ist es das nicht? Wir sind alle seltsam.«
Erneut drehte sie den Kopf, um ihn anzusehen. »Ich weiß, dass ich es bin. In vielerlei Hinsicht. Ich vermute, du hast gesehen, in welcher noch.« Sie warf einen Blick in ihren Schoß.
»Ja«, sagte Wahram. »Obwohl es nicht das ist, was dich seltsam macht.«
Sie lachte kraftlos.
»Hast du Kinder gezeugt?«, fragte er.
»Ja. Das hältst du wahrscheinlich auch für seltsam.«
»Ja«, antwortete er ernst. »Obwohl ich selbst androgyn bin und einmal ein Kind zur Welt gebracht habe. Das ist in meinen Augen eine sehr seltsame Erfahrung, egal, wie man dazu kommt.«
Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn besser betrachten zu können. Offenbar war sie erstaunt. »Das wusste ich nicht.«
»Es war ja auch nicht wirklich wichtig für den Augenblick«, sagte Wahram. »Du weißt schon, es gehört der Vergangenheit an. Wie dem auch sei, ich habe den Eindruck, dass die meisten Raumer ab einem gewissen Alter praktisch alles ausprobiert haben, findest du nicht auch?«
»Wahrscheinlich. Wie alt bist du?«
»Ich bin hundertundelf, danke. Und du?«
»Hundertfünfunddreißig.«
»Hübsch.«
Sie verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen und bedrohte ihn spielerisch mit erhobener Faust. Er schlug zurück, indem er sagte: »Meinst du, du kannst jetzt wieder laufen?«
»Vielleicht. Ich versuche es mal.«
Er setzte sie mit den Füßen auf den Boden und richtete sie auf. Sie lehnte sich gegen ihn. Eine Weile hielt sie sich an seinem Arm fest und humpelte vorwärts, dann straffte sie sich und ging langsam alleine weiter.
»Wir müssen nicht laufen, weißt du«, sagte er. »Ich meine, wir können bis zur nächsten Station gehen und dort warten.«
»Warten wir ab, wie es mir geht. Das können wir entscheiden, wenn wir dort ankommen.«
Wahram sagte: »Meinst du, dass du von der Sonne krank bist? Weil ich nämlich sagen muss, dass mir die Gelenke dafür, dass wir uns hier in M-Schwerkraft aufhalten, ziemlich wehtun.«