Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben eine Ladung abbekommen, die stark genug war, um unsere Funkgeräte zu grillen. Pauline sagt, dass es dafür zehn Sievert braucht.«
»Puh.« Der LD-50-Wert lag bei etwa dreißig, erinnerte er sich. »Mein Armpad hätte sich gemeldet, wenn ich so viel abbekommen hätte. Ich habe darauf geschaut und war nur bei drei. Aber du hast mich gedeckt, während wir auf den Aufzug gewartet haben.«
»Na ja, wir mussten ja nicht beide die volle Ladung abbekommen.«
»Das stimmt wohl. Aber wir hätten uns abwechseln können.«
»Du wusstest nichts über die Eruption. Wie hoch liegt dein bisheriger Gesamtwert?«
»Bei etwa zweihundert«, antwortete er. Angesichts der langen Aufenthalte im All waren sie alle von der DNA-Reparatur durch die Langlebigkeitsbehandlungen abhängig.
»Nicht übel«, sagte sie. »Ich bin bei fünf.« Sie seufzte. »Vielleicht war’s das. Oder vielleicht hat es nur die Bakterien in meinen Eingeweiden umgebracht. Ich glaube, das ist es, was passiert ist. Ich hoffe es. Obwohl ich auch Haarausfall habe.«
»Meine Gelenke tun mir wahrscheinlich nur von dem ganzen Gelaufe weh«, bemerkte Wahram.
»Kann sein. Was machst du als Training?«
»Ich gehe spazieren.«
»Das ist nicht gerade eine Herausforderung für dein Herz-Kreislaufsystem.«
»Ich spreche, ich laufe, ich pruste und schnaufe.« Er versuchte, sie vom Thema abzulenken.
»Schon wieder ein Zitat?«
»Ich glaube, das habe ich mir selbst ausgedacht. Eines meiner Mantras für die tägliche Routine.«
»Tägliche Routine.«
»Ich mag Routine.«
»Kein Wunder, dass es dir hier drin gefällt.«
»Ja, hier gibt es wirklich Routine.«
Sie trotteten eine ganze Weile schweigend weiter durch den Tunnel. Als sie die nächste Station erreichten, beschlossen sie, für heute Feierabend zu machen und ließen sich nieder, um ein paar Stunden länger zu rasten und um die ganze Nacht durchzuschlafen. Einmal ging Swan im Tunnel zurück, um etwas zu erledigen. Als sie zurückkehrte, schlief sie sofort wieder ein, und sie schien gut zu schlafen, ohne Schnurren. Am nächsten Morgen wollte sie weitergehen und erklärte, dass sie langsam und vorsichtig machen würde. Also setzten sie ihren Weg fort.
Die Lichter tauchten immer vor ihnen in der Ferne aus dem Boden auf, wanderten dann empor und in gestrecktem Bogen über sie hinweg. Es sah aus, als gingen sie ständig bergab. Wahram versuchte, ein bestimmtes Licht im Auge zu behalten, aber er war sich nicht sicher, ob es wirklich von dem Moment, in dem es aufgetaucht war, bis zu dem, in dem es sich über ihren Köpfen befand, dasselbe geblieben war. Es war eine Art Rechenübung: Der Blick zum Horizont; irgendwie vervielfacht, aber er war sich nicht sicher, wie oft. »Kannst du Pauline darum bitten, unsere Entfernung zum Horizont zu berechnen?«, fragte er einmal.
»Das weiß ich so«, sagte Swan knapp. »Es sind drei Kilometer.«
»Ich verstehe.«
Mit einem Mal kam ihm das nicht mehr so wichtig vor.
»Wollen wir pfeifen?«, fragte Wahram, nachdem sie eine halbe Stunde lang schweigend gelaufen waren.
»Nein«, antwortetet sie. »Ich bin leergepfiffen. Erzähl mir eine Geschichte. Erzähl mir deine Geschichte, ich möchte mehr über dich erfahren, etwas, das ich noch nicht weiß.«
»Das ist leicht.« Trotzdem fiel ihm mit einem Mal nicht ein, wo er anfangen sollte. »Tja, ich wurde vor einhundertelf Jahren auf dem Titan geboren. Meine Mutter war ein Gebärmann, der ursprünglich von Kallisto stammte, ein Jupiteraner der dritten Generation, und mein Vater war ein Androgyner vom Mars, der bei einem der dortigen politischen Konflikte ins Exil geschickt wurde. Ich bin hauptsächlich auf dem Titan aufgewachsen, aber dort war es damals sehr beengt, nur Stationen und einige wenige kleine Kuppeln. Ich bin dann ein paar Jahre lang auf Herschel zur Schule gegangen, und dann auch auf Phoebe, und auf einem der Polar-Orbiter und dann, erst vor Kurzem, auf Iapetus. Im Saturn-System ziehen fast alle umher, um ein Gefühl für das Ganze zu bekommen, insbesondere, wenn man im öffentlichen Dienst zu tun hat.«
»Ist das bei vielen Leuten der Fall?«
»Alle müssen die Grundausbildung absolvieren und, wie man es ausdrückt, dem Saturn einen gewissen Teil ihrer Zeit opfern. Außerdem kann es sein, dass man für eine Regierungsposition ausgelost und eingezogen wird. Manchen, die eingezogen werden, gefällt es nach einer Weile, sodass sie länger im Amt bleiben. Bei mir war das auch so. Eine meiner letzten Pflichtzeiten war auf Hyperion, ein sehr kleines Plätzchen, das ich mit der Zeit aber wirklich lieb gewonnen habe. Es war so seltsam dort.«
»Schon wieder dieses Wort.«
»Das Leben ist seltsam, so kommt mir das zumindest vor.« Er sang: »People are strange, when you’re a stranger …«, und brach dann ab. »Hyperion ist wirklich seltsam. Allem Anschein nach entstanden, als zwei andere, ähnlich große Monde kollidiert sind. Das Überbleibsel sieht aus wie eine Honigwabe, und die Ränder um die Löcher sind weiß, während das Pulver, mit dem sie etwa zur Hälfte gefüllt sind, schwarz ist. Wenn man also über die Grate läuft oder über der entsprechenden Mondseite schwebt, sieht es aus wie ein ausgesprochen kühnes Kunstwerk.«
»Ein großer alter Goldsworthy«, sagte sie.
»Sozusagen. Und man kann die Dinge dort mit seiner Anwesenheit leicht durcheinanderbringen. Es stand also zur Debatte, wie man dort eine Station einrichten sollte, oder ob man das überhaupt tun sollte, und wie sie zu betreiben wäre, wenn man sich auf Dauer dort einrichtete. Nachdem ich dabei geholfen habe, komme ich mir in gewisser Weise wie ein Kurator vor.«
»Interessant.«
»Das dachte ich mir auch. Ich bin dann nach Iapetus zurückgekehrt, was auch ein wunderbarer Ort zum Leben ist. Irgendwie ist es, als ob man schräg nach hinten zurücktritt, um das ganze System besser in den Blick zu bekommen und zu verstehen, warum es derartige Gefühle auslöst. Dort haben ich Terraforming-Management studiert, und die diplomatischen Künste, soweit es sie gibt …«
»Ein ehrlicher Mann, der von seinem Land ausgesandt wird, um in seinen Diensten zu lügen?«
»Ich hoffe, dass das keine zutreffende Beschreibung von Diplomaten ist. Meine Definition ist es jedenfalls nicht, und ich hoffe, dass es auch nicht deine ist.«
»Ich glaube nicht daran, dass wir uns aussuchen können, was Worte bedeuten.«
»Nein? Ich schon.«
»Nur in sehr engen Grenzen«, erwiderte sie. »Aber erzähl weiter.«
»Tja, danach bin ich zum Titan zurückgekehrt und habe dort beim Terraforming mitgearbeitet. In jenen Jahren bekam ich meine Kinder.«
»Mit Partnern?«
»Ja, in meinem Hort gab es sechs Eltern und acht Kinder. Von Zeit zu Zeit treffe ich mich noch mit allen. Es ist mir fast immer ein Vergnügen. Ich versuche, mir keine Sorgen um sie zu machen. Ich liebe die Kinder; ich erinnere mich an Teile ihres Lebens, an die sie sich selbst nicht erinnern. Für mich ist das wohl interessanter als für sie. Aber das ist schon in Ordnung. Seinen Erinnerungen entkommt man nicht. Man erinnert sich an die Zeiten, die einem gefallen haben, und will etwas Ähnliches. Aber man bekommt immer nur Neues. Also versuche ich, das zu wollen, was ich bekomme. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man das anstellt. Ich glaube, wenn man in sein zweites Lebensjahrhundert eintritt, wird es schwer.«
»Es war schon immer schwer«, sagte sie.
»Stimmt. Diese Welt ist mir ein großes Rätsel. Ich meine, ich verstehe, was man über das Universum sagt, aber ich weiß nicht, wie ich es anwenden soll. Für mich klingt das alles bedeutungslos. Deshalb stimme ich mit denen überein, die der Meinung sind, dass wir uns unseren eigenen Sinn erschaffen müssen. Das Konzept des Projekts erscheint mir dabei brauchbar. Etwas, das man in der Gegenwart tut, das man schon in der Vergangenheit getan hat und sich daran erinnern kann, und das man voraussichtlich auch in der Zukunft tun wird, um etwas zu erschaffen. Ein Kunstwerk, das nicht notwendigerweise an und für sich Kunst sein muss, aber etwas Menschliches, das es wert ist, getan zu werden.«