Stöhnend erhob sich Swan von dem Rollwagen und ging zurück Richtung Westen. »Warte bitte, ich muss schon wieder.«
»Liebe Güte. Viel Glück.«
Nach einer Weile hörte er ein entferntes Ächzen, vielleicht sogar ein verlorenes »Hilfe.« Den Wagen hinter sich herziehend ging er im Tunnel zurück.
Sie war einmal mehr mit heruntergelassenem Anzug zusammengebrochen. Einmal mehr säuberte er sie. Diesmal war sie nicht völlig bewusstlos und wandte den Blick ab. Einmal versuchte sie sogar kraftlos, ihn beiseitezuschieben. Mittendrin schaute sie trübe und zornig zu ihm auf. »Das bin nicht wirklich ich«, sagte sie. »Eigentlich bin ich gar nicht hier.«
»Tja«, erwiderte er ein wenig beleidigt. »Ich auch nicht.«
Sie sackte wieder zusammen. Nach einer Weile sagte sie: »Also ist niemand hier.«
Als er fertig war und sie wieder angezogen hatte, bugsierte er sie auf den Wagen und schob sie weiter. Sie lag wortlos da.
Bei der nächsten Pause brachte er sie dazu, etwas Wasser mit darin gelösten Nährstoffen und Elektrolyten zu trinken. Der Rollwagen, bemerkte sie einmal, erinnerte langsam an ein Krankenhausbett. Dann und wann pfiff Wahram ein wenig, meistens Brahms. Brahms’ Melancholie lag eine gewisse stoische Entschlossenheit zugrunde, die sehr gut zu ihrer jetzigen Lage passte. Sie hatten noch zweiundzwanzig Tage vor sich.
An diesem Abend saßen sie schweigend da. Sie verfielen in ein leicht verwirrtes Instinktverhalten, wie Menschen es oft nach kleinen Krisen tun – wandten die Köpfe voneinander ab und trafen gedankenlos ihre Vorbereitungen für die Nacht; und dann sanken sie unter dumpfen Schmerzen in den Schlaf, diese unsichtbare Zuflucht. Bei solchen Gelegenheiten musste man sich zum Trost an das Pseudoiterativ klammern. Seine Wunden lecken. All das war schon einmal geschehen und würde erneut geschehen.
Eines Morgens stand sie auf und versuchte loszugehen, nur um sich nach zwanzig Minuten wieder auf den Wagen zu setzen. »Das ist besorgniserregend«, sagte sie kleinlaut. »Wenn so viele Zellen zerstört worden sind …«
Wahram sagte nichts. Er schob sie weiter. Mit einem Mal kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht hier in diesem Tunnel sterben würde und er nichts dagegen unternehmen konnte, und eine Woge der Übelkeit durchlief ihn und ließ ihm die Knie weich werden. Ein Krankenhausaufenthalt hätte so viel bewirken können.
Nach langem Schweigen sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Ich schätze, es hat mir seit jeher Spaß gemacht, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich habe den Schock der Angst genossen. Den Nervenkitzel, wenn man überlebt. Es war eine Art Dekadenz.«
»Das hat meine Mama auch immer gesagt«, bemerkte Wahram.
»Wie bei Gruselgeschichten, mit denen man sich schocken will, um wach zu werden. Aber das ist alles Unsinn. Angenommen, man erlebt, wie jemand stirbt, und hilft ihm dabei. All die Bilder, die man sieht, sind aus Horrorgeschichten. Es wird einem klar, dass diese Bilder aus dem eigenen Kopf stammen. Aber man bleibt trotzdem. Und nach einer Weile begreift man, dass die Welt nun mal so ist. Jeder endet so. Man hilft, aber eigentlich kann man nicht helfen, man sitzt einfach nur da. Und am Ende hält man die Hand von jemand Totem. Eigentlich sollte es ein Albtraum sein. Knochen, die aus der Erde emporfahren, um einen zu packen und so. Aber in Wirklichkeit ist es völlig natürlich. Es ist alles natürlich.«
»Ja?«, fragte Wahram, nachdem sie eine Weile innegehalten hatte.
Sie hörte ihn und sprach weiter. »Der Körper versucht, am Leben zu bleiben. Es ist gar nicht so … es ist natürlich. Vielleicht erkennst du es ja jetzt. Erst stirbt das Menschenhirn und dann das Tiergehirn, das Reptiliengehirn. Wie bei deinem Rumi, nur anders herum. Das Reptilienhirn versucht noch mit dem letzten bisschen Kraft, alles in Gang zu halten. Ich habe das schon gesehen. Es ist eine Art Verlangen. Eine ganz reale Kraft. Das Leben will leben. Aber früher oder später reißt ein Glied in der Kette. Die Kraft gelangt nicht mehr dorthin, wo sie hinmuss. Das letzte bisschen ATP wird aufgebraucht. Und dann stirbt man. Unsere Körper werden wieder zu Erde, zu Nährboden. Ein natürlicher Kreislauf. Was …« Sie blickte zu ihm auf. »Was soll’s also? Warum das Entsetzen? Was sind wir?«
Wahram zuckte mit den Schultern. »Philosophen-Tiere. Ein seltsamer Zufall. Eine Seltenheit.«
»Oder so normal wie nur was, aber …«
Sie sprach nicht weiter.
»Verstreut?«, riet Wahram. »Zeitweilig?«
»Allein. Immer allein. Selbst wenn wir jemanden berühren.«
»Tja, wir können reden«, sagte er zögerlich. »Das ist auch ein Teil unseres Lebens. Nicht nur das Reptilienzeug. Manchmal strecken wir uns und überbrücken die Leere.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich falle immer in die Leere hinein.«
»Hmm«, sagte er ratlos. »Das wäre schlecht. Aber ich verstehe nicht, wie das sein kann. Angesichts dessen, was du mir erzählt hast. Und dessen, was ich von dir gesehen habe.«
»Es kommt darauf an, wie man sich dabei fühlt.«
Darüber dachte er ein Weilchen nach. Die Lichter zogen über ihnen vorbei, während er den Wagen schob. Stimmte das? Ging es bei der Frage, ob etwas gut oder schlecht war, darum, wie man sich dabei fühlte, und nicht darum, was man eigentlich tat oder was andere darin sahen? Tja, man steckte in seinen Gedanken fest. Die zeitgenössische medizinische Definition des Begriffs »neurotisch« lautete schlicht: »Eine Neigung zu negativen Gedanken.« Wenn man diese Neigung hatte, dachte er, während er Swans kahlen, schuppigen Kopf betrachtete, wenn man neurotisch war, dann gab es praktisch unendlich viel Stoff, um die Neurose zu füttern. Was war schon die wahre Sicht der Dinge? Hier waren sie, eine Ansammlung von Atomen, und hatten tief im Inneren das Gefühl, dass es auf etwas ankam, selbst während sie zu den Sternen emporschauten, selbst wenn sie sich in einem Tunnel befanden, der sich ewig nach unten krümmte. Und dann verloren die Atome irgendwann die Verbindung untereinander, das Gebilde kollabierte. Was war von alldem zu halten?
Er pfiff den Beginn von Beethovens Neunter und stellte sich vor, wie er sie durch ihre finstere Stimmung hindurch und am anderen Ende wieder ans Licht zerrte, mithilfe der tiefsten Tragödie des alten Meisters, dem ersten Satz der Neunten. Er sprang zu der sich wiederholenden Phrase gegen Ende des ersten Satzes, diejenige, die Berlioz für einen Ausweis von Wahnsinn gehalten hatte. Er wiederholte sie. Es handelte sich um die einfache Melodie, die er sein ganzes Leben lang verwendet hatte, um bergauf zu gehen. Jetzt ging es bergab, am Rande eines großen Kreises, aber es passte perfekt zu seiner Stimmung. Er pfiff die acht Töne immer wieder. Sechs runter, zwei hoch. Einfach und klar.
Schließlich sprach Swan, die mit an die Stange gelehntem Rücken, den Blick nach vorne gerichtet, vor ihm auf dem Wagen lag, wieder. Ihr Tonfall war verwaschen, und sie klang, als redete sie mit Pauline. »Ich frage mich, ob die wissen, dass wir leben. Das weiß man nie. Damals war das das Wichtigste überhaupt, aber dann haben sich die Zeiten geändert, und man selbst hat sich verändert, und sie haben sich verändert. Und dann ist es vorbei. Sie hat mir nichts mehr zu sagen.«
Eine lange Pause trat ein. Dann sagte Wahram: »Wer war der Vater deines Kindes? Hattest du je eins auf beide Arten?«
»Ja. Ich weiß nicht, wer der Vater war. Ich bin zur Fastnacht schwanger geworden, wenn alle Masken tragen. Ein Mann, der mir gefiel. Sie weiß, wer es ist, sie hat ihn ausfindig gemacht.«
»Gefällt es dir, wenn jemand maskiert ist?«
»Damals schon. Und seine Haltung, sein ganzes Auftreten.«
»Ich verstehe.«
»Ich wollte es unkompliziert halten. Damals war das ganz normal. Heute würde ich es nicht mehr so machen. Aber das weiß man immer erst, wenn es zu spät ist. Für ein paar Jahre entwickelt man eine folie à deux, die sehr intensiv ist, aber eigentlich albern, und wenn man sie hinter sich hat, kann man nicht darauf zurückblicken, ohne das Gefühl zu haben … man fragt sich zwangsläufig, ob es gut war oder nicht. Es fehlt einem, aber man bereut es auch, es ist so dumm. Ich tue ständig alles Mögliche, aber ich weiß immer noch nicht, was ich tun sollte.«