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»Leben und Kunst schaffen«, sagte er.

»Von wem ist das?«

»Von dir, dachte ich.«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich es gesagt. Aber was, wenn ich keine besonders gute Künstlerin bin?«

»Es ist ein Langzeitprojekt.«

»Und manche Leute blühen erst spät im Leben auf, willst du das sagen?«

»Ja, vermutlich. Etwas in der Art. Man erhält immer wieder neue Chancen.«

»Mag sein. Aber irgendwie wäre es gut, Fortschritte zu machen, weißt du. Nicht immer die gleichen Fehler zu wiederholen.«

»Spiralen«, schlug er vor. »Steig in einer Spirale auf, indem du die gleichen Sachen auf höherer Ebene wiederholst. Das ist die ganze Kunst, egal, was man macht.«

»Für dich vielleicht.«

»Aber es ist nichts Ungewöhnliches an mir.«

»Dem möchte ich widersprechen.«

»Nein, nichts Ungewöhnliches. Mittelmaß als Prinzip.«

»Befürwortest du dieses Prinzip?«

»Ich bin exemplarisch dafür. Der Mittelweg. Mitten im Kosmos. Aber nicht mehr als alle anderen auch. Ein seltsames Merkmal der Unendlichkeit. Wir sind alle irgendwie in der Mitte. Wie dem auch sei, ich finde diese Perspektive hilfreich. Ich benutze sie, um an Dingen zu arbeiten. Um sozusagen mein Projekt zu strukturieren. Als Teil einer Philosophie.«

»Philosophie.«

»Ja, schon.«

Dieser Gedanke ließ sie verstummen.

»Vielleicht sind wir daran vorbeigegangen«, sagte Swan eines Tages, während sie hinter ihm ging. »Vielleicht sind wir den ganzen Weg unter der Tagseite durchgelaufen und auch unter der Nachtseite, und jetzt sind wir wieder in der Sonne. Vielleicht haben wir die Zeit und die Entfernung aus dem Blick verloren. Vielleicht hast du uns mit deiner Unfähigkeit in die Scheiße geritten, genau wie Pauline.«

»Nein«, antwortete er.

Sie beachtete ihn nicht und brummte etwas davon, was während ihrer Zeit unter der Erde alles schiefgegangen sein konnte. Es wurde eine erstaunlich lange und schaurig einfallsreiche Liste: Vielleicht hatten sie die Orientierung verloren und gingen nun in Wirklichkeit nach Westen; vielleicht waren sie in einen anderen Tunnel geraten und Richtung Nordpol abgebogen; vielleicht hatte man den Merkur evakuiert und sie waren die einzigen lebenden Wesen auf dem Planeten; vielleicht waren sie in der Sonne gestorben und waren mit dem Aufzug in die Hölle herabgefahren. Wahram fragte sich, ob sie das im Ernst meinte, und hoffte, dass dem nicht so war. Es gab so vieles, was zu ihrem Unglück beitrug. Ihr Tagesrhythmus; möglicherweise lief sie, während sie eigentlich schlafen sollte. Vor vielen Jahren hatte er gelernt, dass man keinem Gedanken trauen durfte, den man zwischen zwei und fünf Uhr morgens fasste; in diesen dunklen Stunden fehlten dem Gehirn bestimmte Nährstoffe oder Funktionen, die es brauchte, um Denkprozesse korrekt abzuwickeln. Gedanken und Gefühle verdunkelten sich und wurden zuweilen schwarz wie Fugilin. Besser man schlief, und wenn man das nicht konnte, dann tat man besser schon im Vorhinein alle Gedanken und Stimmungen ab, die einen in diesen Stunden überkamen, und wartete, was der neue Tag an frischen Perspektiven mit sich brachte. Er fragte sich, ob er sie irgendwie danach fragen konnte, ohne ihr zu nahe zu treten. Wahrscheinlich nicht. Sie war ohnehin schon gereizt und fühlte sich offenbar elend.

»Wie geht es dir?«, fragte er dann und wann.

»Wir werden nie ankommen.«

»Stell dir einfach vor, dass wir auch schon nirgendwo angekommen sind, bevor wir hier waren. Ganz egal, wo man sich hinbewegt, man kommt nie irgendwo an.«

»Aber das ist völlig falsch. Himmel, ich hasse deine Philosophie. Natürlich sind wir irgendwo angekommen

»Wir kommen von weit her, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Ach bitte. Fick dich doch mit deinen Glückskeksen. Wir sind jetzt hier. Es dauert zu lange. Zu lange …«

»Stell es dir als Ostinato-Passage vor. Eine sture Wiederholung.«

Doch dann verstummte sie und begann zu stöhnen – es war beinahe ein Summen, ein Geräusch, das sie von sich gab, ohne es zu merken. Kleine, elende Schnaufer. Ein Weinen. »Ich will nicht reden«, sagte sie, als er erneut nachfragte. »Halt die Klappe, und lass mich in Ruhe. Du bist für mich zu nichts zu gebrauchen. Wenn es hart auf hart kommt, bist du zu nichts zu gebrauchen.«

In jener Nacht erreichten sie eine weitere Aufzugsstation. Sie stopfte Essen in sich hinein, wie man Batterien in eine Maschine steckt. Anschließend brummte sie wieder vor sich hin, ohne dass er ihren Worten hätte folgen können. Wahrscheinlich redete sie mit ihrer Pauline. Die ganze Zeit ging das so, ein Brummen in seinem Ohr. Weiter hinten im Tunnel führten sie ohne Zwischenfall ihre Waschungen durch, und dann legten sie sich auf ihre Matten und versuchten zu schlafen. Das Brummen ging weiter. Nach einer Weile schlief Swan schließlich wimmernd ein.

Am nächsten Morgen wollte sie nicht essen, nicht sprechen und sich nicht einmal bewegen. Sie lag katatonisch oder synkopisch oder vielleicht einfach paralysiert auf der Seite.

»Pauline, kannst du reden?«, fragte Wahram schließlich leise, weil Swan einfach nichts von sich geben wollte.

Die leicht gedämpfte Stimme aus Swans Hals sagte: »Ja.«

»Kannst du mir etwas über Swans Lebenszeichen sagen?«

»Nein«, sagte Swan völlig unvermittelt.

»Die Lebenszeichen, auf die ich Zugriff habe, sind normal, mit Ausnahme des Blutzuckerspiegels.«

»Du musst essen«, sagte Wahram zu Swan.

Sie antwortete nicht. Er löffelte ihr etwas Elektrolytenlösung in den Mund und wartete geduldig, bis sie schluckte. Als sie ein paar Deziliter aufgenommen hatte, ohne allzu viel davon wieder auszuspucken, sagte er: »Dort oben ist es Mittag. Über uns an der Oberfläche ist es Mittag. Wir haben die Tagseite zur Hälfte hinter uns. Ich glaube, wir müssen dich hochbringen, damit du die Sonne sehen kannst.«

Swan öffnete ein Lid einen Spaltbreit und blickte zu ihm auf.

»Wir müssen sie sehen«, erklärte er.

Sie stemmte ihren Oberkörper hoch. »Meinst du?«

»Ist das möglich?«, fragte Wahram zurück.

»Ja«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Das ist es. Wir können im Schatten der Schienen bleiben. Zu Mittag ist es nicht so schlimm wie morgens oder nachmittags, weil die Photonen direkt von oben kommen und nicht so viele auf den Anzug treffen. Allerdings sollten wir nicht so lange draußen bleiben.«

»Das geht in Ordnung. Du musst sie sehen, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Mittag auf dem Merkur. Komm mit.«

Er half ihr auf. Dann suchte er ihre Helme, brachte sie in die Aufzugskabine und kehrte zurück, um Swan hochzuheben und sie hinüberzutragen. Während sie hochfuhren, setzte er ihr ihren Helm auf, versiegelte ihn, überprüfte ihre Luftzufuhr und tat das Gleiche bei sich. Laut der Anzeigen war alles in bester Ordnung. Der Aufzug kam zum Stehen. Wahram spürte seinen Puls in den Fingerkuppen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich zur Außenplattform, und die Welt wurde weiß. Ihre Visiere passten sich an, und vor ihnen erschien die Welt in einfachen, schwarz-weißen Umrissen. Ein wenig unten links von ihnen befanden sich die Schienen der Stadt, die weiß und hell leuchteten. Rechts von ihnen erstreckte sich die Mittagslandschaft des Merkur bis zum Horizont. Da es keine Atmosphäre gab, konnte nur die Planetenoberfläche selbst die volle Wucht der Sonnenstrahlen absorbieren; sie glühte weiß. Wahrams Visier hatte sich so stark eingedunkelt, dass die Sterne am Himmel nicht mehr zu erkennen waren. Sie hatten eine weiße Fläche unter einem schwarzen Halbkreis vor sich. Das Weiß pulsierte leicht.