«Es wird ein riskantes Unternehmen«, sagte Bolitho und bemerkte, daß Alldays Hand nach dem Entermesser griff.»Trotzdem will ich das Schiff angreifen, sobald es dunkel ist. Wenn wir es genommen haben, können wir es besetzt halten, bis die Tempest eintrifft.»
Ross sagte nüchtern:»Der Wind hilft Mr. Herrick nicht gerade, Sir. Er ist ganz schön umgesprungen, seit wir an Land sind. «Er blickte zu dem klaren Himmel auf.»Ja, wir werden wohl lange auf die Tempest warten müssen, fürchte ich.»
Keen fragte:»Warum gönnen Sie sich nicht eine Ruhepause,
Sir? Ich übernehme die erste Wache.»
Aber Bolitho schüttelte den Kopf.»Ich muß noch einmal hinauf, um mir das Schiff anzusehen.»
Keen sah ihm nach, während er wieder zu den Felsen hinaufkroch.»Er sollte sich ausruhen, Mr. Ross. Heute nacht werden wir seine ganze Kraft brauchen.»
Allday hörte ihn und starrte zu den Felsen hinauf. Bolitho würde weder ruhen noch ein Auge schließen, ehe er es geschafft hatte. Nicht, ehe er es zuverlässig wußte. Allday zog sein Entermesser und scharrte mit der schweren Klinge im Sand. Er empfand für Viola Raymond eine tiefe
Zuneigung. Sie war seinem Kapitän eine Hilfe gewesen, als er sie am dringendsten gebraucht hatte. Aber im stillen hatte er es erleichtert begrüßt, als sie nach England abreiste. Sie brachte Gefahr mit sich, war eine Bedrohung für die Zukunft seines Kommandanten.
Das Schicksal oder die Dame Fortuna, wie Leutnant Herrick es genannt hatte, wollte es anders. Gleichgültig, wie alles begonnen hatte, jetzt sah es so aus, als ob es ein blutiges Ende nehmen würde, noch ehe der nächste Tag anbrach.
Bolitho leckte sich über die Lippen und spürte den Sand zwischen seinen Zähnen knirschen. Das Warten auf die Dunkelheit hatte sie alle auf eine harte Probe gestellt. Von der Sonne verbrannt, von fliegenden und kriechenden Insekten gepeinigt, war es für alle eine Qual gewesen. Er hörte das Klatschen von Riemen im fast undurchdringlichen Dämmerlicht und erkannte, daß sich ein Boot dem Strand näherte. Den ganzen Nachmittag und sinkenden Abend über, während seine Leute ihre mageren Rationen an Wasser und Schiffszwieback so langsam wie möglich verzehrten, hatte Bolitho das gelegentliche Hin und Her zwischen Schiff und Ufer beobachtet. Das Boot war mehrmals zum Schiff und wieder zurückgefahren, aber nicht ein einziges Mal war es voll besetzt gewesen. Dem Anschein nach hielten sich im Zentrum der Insel ständig Beobachter auf, und für das Boot standen nur wenige Leute zur Verfügung. Die Fahrten erfolgten offenbar nach keinem bestimmten Plan, jedenfalls ließ sich keinerlei Routine erkennen. Eines stand allerdings fest: nach Einbruch der Dunkelheit wurde das Boot jedesmal wachsam aufgefordert, sich zu erkennen zu geben.
An Bord des Schiffes selbst war kaum eine Bewegung wahrzunehmen. Doch das wenige erregte den Zorn und den
Unwillen der beobachtenden Seeleute.
Nachmittags hatten sie eine Frau an Deck gesehen, mit dunklem, offenem Haar und bloßen Schultern; ihre Schreie schrillten über das Wasser, als sie erst gehetzt und dann gepackt und in einen Niedergang gezerrt wurde.
Später wurde die Leiche eines Mannes zur Reling geschleppt und ins Wasser geworfen. Reglos trieb sie ab.
Anscheinend war es an Bord zu einem weiteren Mord gekommen.
Das Boot stieß knirschend ans Ufer, die Besatzung holte die Riemen ein, und dann wurde ein kleiner Anker im harten Sand ausgebracht. Aus dem Lärmen der Männer und dem Klirren von Flaschen ließ sich schließen, daß alle ziemlich betrunken waren. Einer stolperte im nassen Sand und stützte sich auf das Dollbord des Bootes, während seine Gefährten davontrotteten.
Bolitho packte Keens Arm. Es war soweit. Die Männer mochten innerhalb einer Stunde zurückkommen, um sich mehr zu trinken zu holen oder um die Plätze mit ihren Spießgesellen an Bord der Eurotas zu tauschen.»Geben Sie Sergeant Quare das Zeichen zum Einsatz»,
befahl Bolitho.
Er blickte zum Himmeclass="underline" bewölkt, aber nicht genug, um den Mond zu verbergen. Ein frischer Wind wehte, und das Zischen der Brandung und das Rauschen der Brecher am fernen Riff ermöglichten es ihnen, sich ungehört dem Schiff zu nähern.
Bolitho spähte in die Dunkelheit, aber die vielfältigen Schatten täuschten sein Wahrnehmungsvermögen. Er hörte seine Leute schwer atmen, als sie sich durch eine Rinne den Abhang hinuntertasteten. Blissett kroch schon auf das Boot zu, zur Tarnung ganz mit Sand bedeckt, den sie ihm mit kostbarem Wasser an den Körper geklebt hatten. Nur die unendliche Reihe schäumender Wellen trennte das Land vom Meer, vor dem sich das Langboot wie ein gestrandeter Walkadaver abhob.
Bolitho starrte zu dem Schiff hinüber. Es hatte keine Ankerlichter gesetzt, aber er nahm einen schwachen Schimmer hinter einigen Stückpforten wahr und wußte, daß dort die noch vorhandenen Geschütze standen. Mit Schrapnell geladen, würden sie mit jedem unvorsichtigen Angreifer kurzen Prozeß machen. Aber es waren keine Enternetze ausgespannt. Wenn sie erst längsseit waren, mochten ihre Chancen besser stehen. Er erstarrte, als er etwas wie ein trockenes Husten hörte. Dann sagte Quare heiser:»Geschafft, Sir. «Es klang befriedigt.
Bolitho zog seinen Degen und stand auf. Die zweihundert Schritte das letzte Stück Abhang hinunter würden sie unsichtbar sein. Er führte seine Gruppe auf den Strand zu, unter seinen Schuhen knirschten lose Steine. Die Seeleute bildeten eine offene Linie hinter ihm, die meisten hielten sich geduckt, als ob sie mit einer plötzlichen Musketensalve rechneten.
Das war bisher der schlimmste Teil. Bolitho versuchte, nicht an die Musketen und Pistolen zu denken, die jetzt alle geladen und gespannt waren, nicht an das Klirren von Äxten und Entermessern.
Überrascht drehte er sich um, als er hinter sich einen Mann gelassen vor sich hinsummen hörte. Es war der Amerikaner Jenner, der in seinem gewohnten ausgreifenden Schritt vorging und dem das Haar in die Augen hing. Er bemerkte Bolithos Blicke und nickte zuversichtlich.»Eine Nacht wie für uns geschaffen, Sir.»
Hinter Jenner folgte der Neger Orlando; das Enterbeil auf seiner Schulter nahm sich wie ein Kinderspielzeug aus. Plötzlich stand Bolitho neben dem Boot, während die Matrosen sich eng um ihn scharten, wie es ihnen befohlen worden war.
Blissett, der Kundschafter, nahm von Quare seine Muskete entgegen und sah Bolitho an.»ich habe ihn liegen lassen, Sir. «Er stieß den im Sand liegenden Toten mit dem Fuß an.»Er hatte nichts bei sich außer seinen Waffen. Nicht zu erkennen, wer er ist.»
Bolitho sah auf den Toten hinab. Neben Kopf und Schultern war der Sand schwarz, wo das Blut versickert war. Er zwang sich, neben dem Toten niederzuknien, um ihn zu durchsuchen. Der Mond trat kurz hinter den Wolken hervor, und in seinem Licht funkelten die Augen des Mannes, als ob sie ihn zurückweisen wollten. Seine Kleidung war dürftig und abgetragen, aber der Gürtel mit Pistole und Entermesser war in gutem Zustand.
Bolitho tastete Handgelenk und Arm ab. Die Haut war noch warm, der Arm muskulös, ohne überflüssiges Fett. Also ein Matrose. Langsam stand Bolitho auf. Keen flüsterte atemlos:
«Ich habe meine Gruppe um das Boot versammelt.«»Bringt es zu Wasser.»